Ist Weihnachten nur die Feier eines Ereignisses, das sich vor zweitausend Jahren zutrug und das trotz des weitreichenden Einflusses heute vielleicht keine Bedeutung mehr hat? Oder bezeichnet es eine Epoche, in der sich die Prophezeiung der Erlösung erfüllte, von der das Johannesevangelium sagt, sie sei eine Folge der Liebe Gottes für die Welt? Christus Jesus, der selbst im Mittelpunkt dieser Feier steht, verhieß: „... Ich [will] wieder kommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin.“ Joh. 14:3.
Zuvor, als Jesu Zeitgenossen seine — und in Wirklichkeit ihre — ewige Beziehung zu Gott nicht verstehen konnten, hatte er erklärt: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe denn Abraham ward, bin ich.“ Joh. 8:58. Er hätte es kaum deutlicher machen können, daß er nicht von seiner menschlichen Persönlichkeit sprach; denn wer konnte glauben, daß dieser Mann, der vor ihnen stand, schon vor Abraham gelebt habe, der ihres Wissens vor Hunderten von Jahren gestorben war? Deswegen ist es logisch zu akzeptieren, daß sich Jesus, als er von dem zweiten Kommen sprach, nicht auf sein eigenes persönliches Erscheinen bezog, sondern auf die göttliche Offenbarwerdung Gottes, die schon vor Abraham der Heiland der Welt war und es seitdem ist.
„Das zweite Erscheinen Jesu“, schreibt Mrs. Eddy, „ist fraglos das geistige Kommen der sich entfaltenden Idee von Gott, wie es in der Christlichen Wissenschaft der Fall ist.“ Rückblick und Einblick, S. 70. Und an anderer Stelle beantwortet sie ihre eigene Frage: „Gibt es mehr als einen Christus, und wird der Christus ein zweites Mal erscheinen?“ folgendermaßen: „Es gibt nur einen Christus. Von Ewigkeit zu Ewigkeit ist dieser Christus niemals abwesend.“ Sie fügt weiter hinzu: „... wenn wir den Christus auf den Wogen des sturmbewegten Meeres der Erde wandeln sehen, glauben wir wie Petrus an das zweite Kommen und möchten noch enger verbunden mit Christus wandeln; aber wir finden uns so weit von der Verkörperung der Wahrheit entfernt, daß oft dieser Versuch in hohem Maße fehlschlägt und wir ausrufen: ‚Herr, hilf uns, wir verderben!‘ “ Botschaft an Die Mutterkirche für 1900, S. 7.
Jene wenigen kurzen Augenblicke, die Petrus auf dem Wasser wandelte, deuten vielleicht unser eigenes Erlebnis „des zweiten Kommens“ an, wenn sich durch unsere Demonstration der wissenschaftlichen Gesetze des Christentums irgendein materieller Zustand, der sich nicht zu ändern schien, doch ändert, wenn irgendeine Furcht, die nicht weichen wollte, schließlich weicht, wenn Leiden, die als unheilbar bezeichnet wurden, verschwinden und die Kranken geheilt werden. Der Zweifel wird uns nicht für immer daran hindern, das zu tun, was der Meister gebietet. Vielleicht war es das Vertrauen, das Petrus fälschlicherweise in den persönlichen Jesus setzte, das ihn veranlaßte, etwas zu versuchen, was er noch nicht durchführen konnte. Hätte er die wissenschaftlichen, geistigen Gesetze völlig verstanden, nach denen Jesus lebte, dann hätte auch er wie Jesus weiter auf dem Wasser wandeln können. Wenn die Menschheit diese Gesetze des Christus, der Wahrheit, besser versteht, werden Heiler auf dem „sturmbewegten Meer der Erde“ wandeln, bis alle Opfer der Furcht gerettet sind.
Obwohl schon ein beginnendes Verständnis dieser Gesetze zeigt, wie unlogisch es wäre zu glauben, der geliebte menschliche Jesus werde auf die Erde kommen, alle Gläubigen bei der Hand nehmen und sie auf dramatische Weise gleichzeitig von der Erde wegführen, so beeinträchtigt dies doch nicht die Macht und den Glanz des prophezeiten zweiten Kommens. Vielmehr hilft uns dieses wissenschaftliche Verständnis von der Parusie — die man in weitem Sinne als Gottes Absicht bezeichnen kann, das durch Jesu Mission begonnene Werk zu vollenden —, die Erlösung ohne die begrenzenden Dimensionen von Zeit und Raum zu verstehen. Wenn wir die geistigen Gesetze, nach denen Jesus lebte, zu erfassen beginnen, folgen wir ihm auf dem Weg, den er vorzeichnete — durch Heilungswerke, ein besseres Leben hier auf Erden, Unterwerfung der Materie und Ausrottung der Sünde und ihrer Leiden.
Dies steht in genauem Gegensatz zu einer Theologie, die durch wörtliche Interpretation der Aussagen Jesu über die endgültige Erfüllung der von Gott prophezeiten Erlösung sowohl Versprechungen wie Drohungen macht. Diese Theologie erklärt — manchmal unter Angabe von Daten —, Jesus werde zur Erde zurückkehren und jene für immer vom Reich Gottes ausschließen, die ihn noch nicht als ihren Heiland anerkannt haben. Das ist eine scharfe Waffe, die in den Händen der Tyrannei Unheil wirkt.
Wenn man aber jene Verse aus dem Matthäusevangelium genau prüft, die das beschreiben, was das Jüngste Gericht genannt worden ist (s. 25:31–46), und wenn man sie nicht rein wörtlich betrachtet, sondern sich inspirieren läßt, kann man praktische Anleitung dafür finden, wie man an der völligen Erlösung von allem Übel teilhaben kann, die Gottes Liebe verspricht. Nach Jesu eigenen Worten schließt dieses zweite Kommen eine klare, eindeutige Trennung des Guten vom Bösen ein, eine Trennung der Werke, die heilen und die Menschheit befreien, von solchen, die die Nöte der Menschheit ignorieren.
Und selbst hier in diesen Versen ist Jesu Äußerung über seine eigene Rolle bezüglich des Verhaltens seiner Nachfolger unpersönlich. Von unseren guten Werken oder deren Mangel sagt er: „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ und: „Was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.“ Matth. 25:40, 45. Die Tatsache, daß er sich selbst mit der leidenden Menschheit identifizierte, hielt ihn nicht davon ab, die Menschheit in Christus geborgen zu sehen, der, wie er wußte, das wahre Selbst ist. Diese Kenntnis der wissenschaftlichen Wirklichkeit befähigte ihn, der Heiland für die ganze Menschheit zu sein.
Dadurch, daß die wissenschaftlichen Wahrheiten, die der Meister demonstrierte, von den geistig Gesinnten aller Zeiten vor und nach ihm verstanden und angewandt wurden, blieb das Christus-Heilen nicht auf einen begrenzten Zeitraum beschränkt. Die Wissenschaft des Christentums bringt es praktisch direkt in unser Leben hinein. Wir werden das zweite Kommen wahrnehmen, wenn wir es dem Christus, der Wahrheit, erlauben, unsere Gedanken zu bestimmen und uns zu erheben, damit wir wirklich bezeugen, daß der Mensch von Gott, von allem Guten, untrennbar ist. Auf diese Weise helfen wir, Hunger und Durst zu stillen, den Fremdling, Kranken und Gefangenen zu versorgen, ja, den menschlichen Nöten durch geistige Macht zu begegnen.
Die messianische Sendung Christi Jesu braucht nicht wiederholt zu werden. Seine Lehren umfassen die Ewigkeit und lassen seine Nachfolger erkennen, wie zeitlos und unpersönlich die Parusie ist. Dieses griechische Wort, das sowohl „Gegenwart“ als auch „Wiederkunft“ bedeutet, mag uns erklären, was Mrs. Eddy für die geistige Bedeutung einer Zeile des Gebets des Herrn hält:
„Dein Reich komme.
Dein Reich ist gekommen; Du bist immergegenwärtig.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 16.
Durch das große Werk Jesu ist es möglich geworden, etwas davon wahrzunehmen, daß das Reich Gottes und Seines Christus uns stets umgibt, uns niemals fern ist; und wir finden dies heute im christlich-wissenschaftlichen Heilen bestätigt. Mögen wir so hellwach und aufnahmebereit für das zweite Kommen sein — „das geistige Kommen der sich entfaltenden Ideen von Gott“ —, wie es die Hirten und die Weisen in alter Zeit für die Geburt Jesu waren.
Das Kommen Jesu im Fleisch war ein Durchbruch, der Gottes Liebe für die Welt auf bis dahin unbekannte Weise offenbarte und den wir niemals vergessen dürfen. Das Erscheinen der von Mrs. Eddy so sorgfältig erläuterten Christlichen Wissenschaft bringt die Menschheit beständig der Liebe näher, die Gott ist.
Das zweite Kommen — nun kein gefürchtetes Ereignis mehr, das mit einer möglichen Trennung von lieben Menschen droht — hat eine heilende Aufgabe, die dem Geist des ersten Kommens entspricht. Es bringt allen von Gott ausgehende völlige Erlösung von Krankheit, Tod und Sünde. Unser Weihnachten kann sowohl das erste als auch das zweite Kommen feiern, wenn wir eine umfassendere Vorstellung von der göttlichen Tatsache erlangen, daß Gottes Liebe alle und alles berührt. Dann wird die Botschaft der Engel: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“ Luk. 2:14. nicht nur in der stillen Nacht gehört werden, sondern auch über das Tosen der Meere hinweg.
