Wie hat er gebetet? müssen sich seine Jünger oft gefragt haben. Sie sahen die Heilungen, zu denen Jesu Gebete führten: Ein gekrümmter Körper richtete sich auf, Zachäus konnte mit Gier und Korruption brechen, das bittere Leben einer Prostituierten wurde geläutert, vergeistigt und lieblicher, so daß sie zu einer tiefen und demütigen Liebe fähig war.
Eine Frau, die mehr Jahre gelitten hatte, als sie zugeben wollte, kam, um den Saum seines Gewandes zu berühren. Fürchtete sie sich, eine Schranke der Konvention zu übertreten, die es einer Frau in ihrem Zustand untersagte, jemand anderes zu berühren? Vielleicht. Oder hatten die vielen Jahre ärztlicher Behandlung sie so erschöpft, daß sie nun keiner Person mehr von ihrem Leiden erzählen wollte? Wie dem auch sei, als sie sich durch die Menge drängte, versuchte sie nicht, ihn mit ihrer Bürde zu beeindrucken; sie brachte ihr Leben in den Bereich seiner Gebete. Und im gleichen Augenblick wurde sie geheilt. Wie betete denn dieser Mann?
Als die Jünger Christus Jesus baten, sie das Beten zu lehren, tat er es. Auf diesen Augenblick Bezug nehmend, schreibt Mrs. Eddy im Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft im aufschlußreichen ersten Kapitel mit dem Titel „Gebet“ folgendes: „Unser Meister sagte: ‚Darum sollt ihr also beten‘, und dann gab er jenes Gebet, das sich auf jedes menschliche Bedürfnis erstreckt.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 16.
„Unser Vater“, beginnt das Gebet. S. Matth. 6:9-13. Er hätte uns lehren können, „mein Vater“ zu sagen, denn das ist Gott. Aber es heißt: „Unser Vater“. Ob wir für ein Kind, für Eltern oder sonst jemanden beten, wir beten zu unserem Vater. Und ob unsere Gebete von der spezifischen Sorge um eine Familie bis zu dem ganzen Problemenkomplex einer Dritten oder Vierten Welt reichen oder zu den Ghettos der Trennung und Entbehrung in irgendeiner Welt, diese Gebete beginnen mit „Unser Vater“.
Gehen wir von Anfang an davon aus, daß wir miteinander vereint sind, können wir unsere Beziehung zu Gott vielleicht besser verstehen. Wir sind Seine Kinder; Er ist unser Ursprung und unsere Stärke. Wir tauschen die Schuld des Sterblichseins und die Last gegen die Erneuerung unseres Selbst ein. Unser Vater erschafft den Menschen aus Seiner eigenen Vollkommenheit und sorgt für ihn. „Unser Vater“, beten wir. „Unser Vater“.
„ ... in dem Himmel.“ Im Himmel? Ist Er nicht hier? Er schien so nah, so gegenwärtig, so persönlich zu sein. Der Vater, der für Sein Kind sorgt und sich an ihm erfreut. Können wir Ihn in einem weitentfernten Himmel bestehen lassen? Können wir Seinen Namen heiligen und eine Gottheit verehren, die vom Irdischen entrückt ist?
Bete weiter. Gott ist nicht in einen weitentfernten Himmel verbannt; das Gebet bringt Seinen ganzen Himmel genau dorthin, wo wir sind. Er kommt nicht nur hin und wieder, um uns aufzurichten und die Tränen fortzuwischen. Hätte der Meister eine solche Vorstellung gehabt, wäre es ihm nicht möglich gewesen, das Volk zu heilen und seine Heilarbeit fortzusetzen. Der Vater-Mutter Gott sorgt nicht nur für uns — ja, Er tut das —, sondern Sein ganzes Reich kommt, alle Seine Gesetze umfangen die Erde in wissenschaftlicher Harmonie. „Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel.“
„... wie im Himmel.“ Wie es im Himmel ist, genauso ist es auch auf Erden, kein bißchen anders — da gibt es keinen Irrtum, keine Sünde. In gewissem Sinne schließt der Himmel die Erde ein, weil Sein Wille geschieht. Sein Wille, der die Wünsche und Beschlüsse der Menschheit veredelt, legt unsere Prioritäten neu fest und veranlaßt uns, die Mittel wie auch den Zweck zu prüfen. Kann dies Gottes Wille sein? fragen wir und ändern unseren Kurs. Es gibt nichts als den Himmel, wenn Gottes Wille unser Wille ist.
Aber wie können wir Seinen Willen immer mit Sicherheit erkennen? In gewissem Sinne beginnt hier das Bittgebet. Unsere Führerin Mrs. Eddy erklärt die geistige Bedeutung dieser Zeile folgendermaßen: „Befähige uns zu wissen, daß Gott — wie im Himmel, also auch auf Erden — allmächtig, allerhaben ist.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 17.
Jetzt ist der Augenblick gekommen, von Lobpreis und Bestätigung abzulassen und danach zu suchen, was das Gebet uns aufträgt. Mit Hilfe der Fähigkeiten, die unser Vater uns gibt, bemühen wir uns, die Bedeutung solch mächtiger Begriffe wie Allmacht, Allerhabenheit, ja Gott selbst zu erfassen. Was bedeutet es, daß Gott, Liebe genannt, alle Macht hat, die es gibt — Macht über alles andere, was möglicherweise Wünsche erwecken, Entscheidungen treffen, kurzum, als gottloser Wille wirken könnte?
Wenn wir die Allerhabenheit und Allmacht Gottes, Leben genannt, verstehen, uns ihrer wirklich bewußt sind, zeigt sich uns die Wirksamkeit dieses Gebets in Heilung. Wir bieten dem Tod tatsächlich die Stirn, und den Leiden und Schmerzen, den leichten und ernsten Krankheiten, die sich auf den letzten Feind stützen, wird das Fundament ihrer angeblichen Gesetze entzogen.
Gott, der unser Gebet erhört, noch ehe wir bitten, befähigt uns, Seine Allerhabenheit und Allmacht zu verstehen. Und wenn unsere Bitte auch spezifisch ist, so bitten wir doch nicht um irdische Dinge. „Das Gebet des Herrn ist das Gebet der Seele“, sagt uns unsere Führerin, „und nicht des materiellen Sinnes.“ Ebd., S. 14. Wir bitten also um Gnade und Liebe und um die Fähigkeit, zu vergeben und Vergebung zu finden. Wenn wir auf all die Lehren unseres Meisters gehört haben, suchen wir in uns selbst nach dem Reich, in dem diese Gaben in Fülle vorhanden sind. In unserer sich ständig entfaltenden Christlichkeit finden wir alles, was wir erbitten, um uns zu erhalten und gut zu bleiben.
„Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.“ Ob Jesus diese letzten Worte gesagt hat oder nicht — viele Bibelforscher meinen, sie kommen nicht von ihm —, ist nicht so wichtig; vielleicht war jemand, der seine Worte abschrieb, von der Nähe des Himmels, die sie ihm vermittelten, so erfüllt, daß er es sich nicht versagen konnte, diese großartigen letzten Zeilen hinzuzufügen.
Auch unser Herz singt, wenn wir deutlicher spüren, daß der Himmel zum Gesetz, zur Macht und Substanz unseres Lebens wird. Und das geschieht, wenn wir uns dem Gebet des Herrn fügen. Der Himmel ist gegenwärtige Wirklichkeit, zusammenhängender und verläßlicher, als alles Irdische es je zu sein schien.
Sollen wir beten? Und das ganze Universum in unser Gebet des Herrn einschließen? Das ist es, was Jesus sich von seinen Jüngern erhoffte.