Vorgefaßte, begrenzende Meinungen über Angehörige einer anderen Rasse, einer anderen Religion, eines anderen Kulturkreises oder des anderen Geschlechts sind offenbar tief im Bewußtsein der Menschen verwurzelt und haben die Menschheitsgeschichte jahrhundertelang mit geprägt. Die meisten von uns haben zwar unverhohlene Vorurteile und deren gewalttätige Ausbrüche nicht unmittelbar unterstützt, doch Millionen und Abermillionen haben das getan. Daneben gibt es die subtileren Vorurteile, die unbemerkt zum Durchbruch und zur Fortdauer gröberer Vorurteile beitragen. Häufig werden sie gar nicht erkannt oder aber vernunftmäßig erklärt.
Doch die Bibel, wenn man sie geistig begreift, heißt nicht einmal das kleinste Vorurteil gut. Sie berichtet über den Fortschritt, den die Menschheit — teilweise durch schmerzhafte Erfahrungen — gemacht hat, nachdem sie das moralische und geistige Gesetz allmählich besser verstehen gelernt und beherzigt hat. Aber wie lange der Fortschritt auf sich warten läßt! Und wie oft die Fehler der Väter wiederholt werden! Doch im menschlichen Bewußtsein dämmert das Verständnis auf, daß Gott göttliche Liebe und der Mensch Sein Bild und Gleichnis, Sein geliebtes Kind, ist.
Seit der Zeit der Erzväter bis hin zur neutestamentlichen Zeit, ja bis auf den heutigen Tag haben ehrliche Sucher tiefe Einblicke in das wahre Wesen Gottes und des Menschen gewonnen. Jeden Durchbruch begleiteten entsprechende äußere Zeichen, daß die Macht der Wahrheit die menschliche Erfahrung regiert.
Die Bibel berichtet, wie voreingenommenes, begrenztes Denken wich und dadurch Völker und Familien vereint, Leben errettet, Hungernde gespeist, Gefahren gebannt und Krankheiten geheilt wurden.
In den biblischen Berichten über Christi Jesu Wirken lesen wir, daß er eine Samariterin etwas lehrte, obwohl die Juden seit Generationen mit den Samaritern keinen Umgang gehabt hatten, da sie sie als minderwertig ansahen. Wir mögen das Gleichnis vom barmherzigen Samariter heute gern hören. Aber fühlten sich Jesu jüdische Anhänger in ihrer Haut wohl, als sie ihm zuhörten? Die meisten von ihnen hatten vermutlich keine Mühen gescheut, ihr Leben lang die Samariter zu meiden!
Christus Jesus durchbrach die alten Vorurteile gegen Frauen, als er sie vor aller Augen lehrte, mit ihnen in der Öffentlichkeit sprach und mit jenen Frauen zusammentraf, die nach den strikten religiösen Gesetzen jener Tage als „unrein“ bezeichnet wurden. Jesus war mit Männern und Frauen zusammen, die nach den Regeln der damaligen Gesellschaft zweifellos als Parias galten. Bei seinen Heilungen sprengte er oft überlieferte Regeln, Riten, Tabus und Traditionen.
Er wollte sich damit nicht als Sonderling hervortun. Der heilende Christus, die Wahrheit, von der Jesus erfüllt und seine Mission gekennzeichnet war, mußte einfach das engstirnige, konventionsgebundene Denken samt seinen Begrenzungen durchbrechen und heilen. Der Christus heilte, ohne daß dabei jemand zu Schaden kam.
Der Apostel Paulus erfaßte Jesu Absicht, daß die christliche Kirche universal und ungeteilt sein sollte. Und so schrieb er in einem seiner Briefe an die frühen Kirchen: „Ihr seid alle Gottes Kinder durch den Glauben an Christus Jesus. Denn wie viele von euch auf Christus getauft sind, die haben Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Knecht noch Freier, hier ist nicht Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal einer in Christus Jesus. Seid ihr aber Christi, so seid ihr ja Abrahams Kinder und nach der Verheißung Erben.“ Gal. 3:26–29.
Christus, Wahrheit, löst Vorstellungen von Trennung und Ungleichheit, ja selbst von Sterblichkeit auf. Der Christus ersetzt diese Lügen durch die Wahrheit, daß der Mensch völlig geistig und eins mit Gott ist, daß er von Gott und der universalen Familie Gottes nicht getrennt sein kann. Die Lüge über Trennung und Ungleichheit ist und bleibt eine Lüge, ganz gleich, wie oft sie wiederholt oder in wie vielen Varianten sie uns aufgetischt wird. Sie ist niemals auch nur für einen Augenblick wahr.
Doch es erfordert geistige Treue, Einsicht und häufige Selbstprüfung, diese Wahrheit so weit zu bezeugen, daß es auch befreit und heilt.
Mrs. Eddy erklärt in Wissenschaft und Gesundheit: „Um den Anspruch der Sünde zunichte zu machen, mußt du ihn aufdecken, ihm die Maske abnehmen, auf die Illusion hinweisen, dadurch den Sieg über die Sünde erlangen und so ihre Unwirklichkeit beweisen.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 447. Die menschliche Mentalität ist dieser Aufgabe nicht gewachsen. Der Christus in unserem Bewußtsein ist es, der einengenden falschen Vorstellungen die Maske abnimmt, indem er uns unzweideutig und klar die Wahrheit über des Menschen Identität offenbart.
Der Christus deckt die Wurzeln der Vorurteile auf und heilt; er berührt unser Herz und löst Furcht, Unwissenheit, Besorgnis, Eigenwillen und Selbstsucht auf — Elemente, aus denen Vorurteile entstehen. Der Christus demonstriert die göttliche Liebe in unserer unmittelbaren Gegenwart, gerade dort, wo anscheinend keine Liebe ist.
Die Überwindung eines Vorurteils bedeutet sehr viel mehr, als nur „tolerant zu sein“ oder „nichts dagegen zu haben“. Die Gegenwart des Christus zu bezeugen heißt, tief zu empfinden, daß in uns Gottes Liebe aufwallt! Kein Damm kann Gottes Liebe zu uns noch unsere Liebe zu Gott zurückhalten, weder unsere Wertschätzung unserer Mitmenschen noch unsere Liebe zu ihnen. Die Heilung von Vorurteilen schließt mehr in sich, als nur zu lernen, zueinander nett zu sein; es bedeutet, jede Spur von Ungleichheit und selbst versteckte Formen der Scheinheiligkeit aufzugeben, ja sich der göttlichen Liebe zu beugen.
Wenn wir Vorurteile entdecken und ihnen die Maske abnehmen, erkennen wir sehr schnell, daß wir sie in unserem Denken als Gedanken handhaben müssen. Wir können kaum erwarten, daß wir sehr weit kommen, wenn wir lediglich die Symptome kurieren. Ob wir nun das Opfer eines Vorurteils sind oder ein Vorurteil gegen jemanden haben, wir wissen, daß wir das Himmelreich, die Herrschaft der Harmonie, in unserem eigenen Bewußtsein erkennen können. Tun wir das, dann wird die Wahrheit in unserem Leben und im Leben anderer nach außen hin kund.
Das erfuhr auch der Apostel Petrus. Ihm wurde klar, daß die jüdische Einstellung zu den Nichtjuden im Widerspruch zu Jesu Lehren stand. Petrus wollte seinem jüdischen Erbe treu sein, doch weil er betete und bereit war, Christus zu gehorchen, gewann er einen Einblick in die Universalität der Kirche, die Christus Jesus gegründet hatte. Seine Vorstellung vom „auserwählten Volk“ erweiterte sich so sehr, daß er freimütig erklären konnte: „Nun erfahre ich in Wahrheit, daß Gott die Person nicht ansieht; sondern in jeglichem Volk, wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm.“ Apg. 10:34, 35.
Petrus wurde von einer Abneigung gegen das geheilt, was für ihn zuvor „gemein oder unrein“ gewesen war. Diese neue Freiheit von einem anerzogenen Vorurteil gab ihm zweifellos größere Überzeugung und größeren Mut, als er verfolgt wurde, da er sich zum Christentum bekannte.
In einer Welt, in der Religions– und Rassenkriege ausgefochten werden, kann der einzelne, der für die Liebe des Christus Zeugnis ablegt, mehr bewirken, als er sich vielleicht vorstellt. Wenn er von ganzem Herzen an der Wahrheit festhält, selbst wenn ihm seine Bemühungen sehr bescheiden vorkommen, kann das den ersten Riß in der Mauer der Vorurteile eines anderen zur Folge haben oder den endgültigen geistigen Gedankenblitz auslösen, der sie einstürzen läßt. Wir müssen auf unsere Gebete vertrauen. Ob nun die Vorurteile sich in gewaltsamen Ausbrüchen zeigen oder kaum wahrnehmbar sind, wir können an der Tatsache festhalten, daß wir als Gottes geistige Ideen eins sind in Christus. Dort gibt es weder Furcht noch selbstsüchtigen Stolz, noch einander widerstreitende Egos.
In Wissenschaft und Gesundheit wird die geistige Bedeutung von „Ich oder Ego“ dargelegt; u. a. heißt es dort: „Es gibt nur ein Ich oder Uns, nur ein göttliches Prinzip oder Gemüt, das alles Dasein regiert ...“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 588.
Wie vollkommen hallt in diesen Worten Christi Jesu Gebet wider, das er in der Nacht vor seiner Kreuzigung betete, als sein endgültiger Sieg nahte. Er betete für Einheit. Er erkannte seine eigene Einheit mit Gott an und bekräftigte, daß seine Mission allein durch Gottes Kraft vollendet worden war. Er betete, daß die gegenwärtige Generation und auch die künftigen Generationen zu dieser geistigen Einheit, die er demonstriert hatte, erwachen mögen. Wie umfassend und weitreichend war doch sein Gebet! „Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, auf daß sie alle eins seien, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir; daß auch sie in uns seien, damit die Welt glaube, du habest mich gesandt.“ Joh. 17:20, 21.
Jesu Worte, daß „alle eins seien“ — was er so gern verwirklicht sehen wollte —, und die Erklärung im Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, daß es nur „ein Ich oder Uns“ gibt, deuten auf etwas viel Größeres hin als nur auf die Zusammenführung ungleicher Elemente. Unsere Aufgabe besteht nicht so sehr darin, „zusammenzuführen“, sondern darin, gewahr zu werden, daß wir in der Wahrheit zusammen sind.
Jesu Gebet für die Einheit ist so schlicht, daß es unsere Aufmerksamkeit fordert. Da uns die Worte dieses Gebets vertraut sind, gehen wir vielleicht zu schnell über sie hinweg und erfassen nicht ihre volle Tiefe. Als Nachfolger Christi Jesu sind wir nicht nur die Erben seines Gebets, sondern wir haben auch die Aufgabe, es zu unterstützen, indem wir immer mehr die Einheit des Seins, die er erschaute, in unserem Leben beweisen.
Der Christus beherrschte Jesus. Und in dem Maße, wie Christus auch uns beherrscht, werden wir furchtlose und sanftmütige Nachfolger Jesu sein und uns des Reichtums, der Vielfalt und der Liebe in der großen universalen Familie Gottes erfreuen. Tatsächlich gehören wir alle zu dieser Familie. Lassen Sie uns diesem einen „Ich oder Uns“ die Treue geloben.
Wenn wir Gott ehren und uns einander in unserer Nachbarschaft, in unseren Kirchen, in unseren Herzen vorbehaltlos lieben, gewinnt die Demonstration unserer geistigen Einheit an Lebendigkeit. Die Lichtblicke, die wir schon heute von der Wahrheit gewinnen, seien sie auch nur flüchtig, lassen die Fundamente für die Schranken der Vorurteile ins Wanken geraten und enthüllen und beweisen schließlich deren Nichtsheit!