Salomos Weisheit ist sprichwörtlich geworden. Sein kluges Vorgehen bei der Ermittlung der wahren Mutter eines Säuglings, um den sich zwei Frauen stritten, ist bis heute nicht vergessen. Aber wenn es um Herzensangelegenheiten ging, hat Salomo nicht immer weise gehandelt. So berichtet die Bibel über ihn: „Als er nun alt war, neigten seine Frauen sein Herz fremden Göttern zu, so daß sein Herz nicht ungeteilt bei dem Herrn, seinem Gott, war.“ 1. Kön 11:4.
Na und? könnte man sagen. Wer ist schon vollkommen? Doch Jesus lehrte, daß der Mensch vollkommen sein kann. In der Bergpredigt sagte er: „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Mt 5:48. Dieses Wort Jesu gehört sicherlich zu den härtesten Forderungen. Wir werden heutzutage nicht dazu ermutigt, den Menschen für vollkommen zu halten. Die Überzeugung, daß der Mensch von Natur aus unvollkommen ist, ist tief im menschlichen Denken verwurzelt.
Selbst Jesus schien vielen Menschen nicht gerade vollkommen zu sein. Würde jemand, der vollkommen ist, unverheiratet bleiben? Würde jemand, der vollkommen ist, mit einer Handvoll Jünger durch das Land ziehen und manchmal sogar bei denen einkehren, die als Sünder galten? Würde jemand, der vollkommen ist, die als höchstes Heiligtum geltende Stätte einer Gemeinde aufsuchen und die etablierten Geschäftsleute — die Geldwechsler —, die dazu beitrugen, den Tempel zu erhalten, hinaustreiben? Würde ein vollkommener Mensch schließlich wegen Verrat und Aufruhr angeklagt werden? Im Falle Jesu lautet die Antwort auf diese Fragen tatsächlich: Ja.
Wenn wir Christi Jesu Worte als Wahrheit ansehen sollen und sie von seinem Vater stammen, dann müssen wir auch überlegen, welche Bedeutung sie tatsächlich gehabt haben. Denn vollkommen war Jesus. Er tat genau das, was Gott ihm aufgetragen hatte, er enthüllte die Gotteskindschaft des Menschen. Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß die Vollkommenheit des Menschen so wissenschaftlich wahr ist wie die Vollkommenheit Gottes und daß jeder von uns das beweisen kann. Mrs. Eddy schreibt in Wissenschaft und Gesundheit: „Die göttliche Forderung, Darum sollt ihr vollkommen sein‘ ist wissenschaftlich, und die menschlichen Schritte, die zur Vollkommenheit führen, sind unerläßlich. Die Menschen sind konsequent, die wachen und beten, die, laufen‘ können, und nicht matt werden, ... wandeln‘ können, und nicht müde werden‘, die das Gute schnell erringen und ihre Stellung behaupten oder die es langsam erlangen und sich nicht entmutigen lassen. Gott verlangt Vollkommenheit, aber nicht eher, als bis die Schlacht zwischen Geist und Fleisch ausgefochten und der Sieg gewonnen ist.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 253.
Christlich-wissenschaftlicher Realismus beim metaphysischen Heilen bedeutet, daß wir den Mut haben zuzugeben, daß es eine Schlacht auszufechten gibt, damit der Sieg über das Fleisch gewonnen werden kann — über die Materialität, die das menschliche Dasein bedingt und die grundlegende Voraussetzung für menschliche Annahmen ist. Das Festhalten an der Annahme, daß Mensch — das Kind Gottes — weniger als vollkommen sei, führt zu nichts und birgt nicht den geringsten Trost. Wenn man sich dagegen der geistigen Tatsache öffnet, daß der Mensch als Kind Gottes vollkommen ist, so rüstet man sich für den Kampf gegen das Fleisch oder die fleischlichen Annahmen, die der Ursprung von Sünde, Krankheit und Tod sind.
Geistige Vollkommenheit ist nicht die technische Verbesserung eines materiellen Mechanismus oder Organismus; sie ist die geistige Wirklichkeit des Menschen, der der Ausdruck vom Wesen Gottes ist. Vollkommen sein heißt gut sein; es heißt, Gott als göttliche Quelle des Seins zu verstehen und den Menschen als das getreue Ebenbild dieser Quelle. Die Christus-Vollkommenheit wird in unserem Leben sichtbar, wenn wir das tiefe geistige Verlangen in uns hegen, gut zu sein und zu erkennen, was das Gute wirklich ist. Zugleich müssen wir, um gut sein zu können, bereit sein, den persönlichen Sinn oder Willen aufzugeben.
Dieses Verlangen kann sich bei Ehemännern im Verhalten gegenüber ihren Ehefrauen äußern. Das gilt natürlich umgekehrt auch für die Ehefrauen. Eltern empfinden dieses Verlangen, wenn sie ihren Kindern Achtung entgegenbringen und eigene Denkweisen und Gewohnheiten aufgeben, die dem Kind schädlich sein könnten, sollte es diese von ihnen übernehmen. Kinder können dieses Verlangen in dem Maße spüren, wie sich ihre Achtung vor den menschlichen Eltern auf ihr Verhalten auswirkt. Es zeigt sich darin, wie sie reagieren, wenn sie dazu angehalten werden, zu einem harmonischen Zuhause beizutragen.
Zugegeben, niemand ist menschlich vollkommen. Es wird sich wohl keiner unter uns finden, der nach menschlichen Normen ohne Fehler ist. Aber das tiefe, geistige Verlangen, gut zu sein und zu wissen, was wirklich gut — d. h. gottähnlich — ist, bewirkt eine Veränderung oder Umwandlung in unserem Denken und Leben. Und auf diese Veränderung, die sich aus dem Hunger nach einer solchen geistig mentalen Umwandlung ergibt, kommt es an.
Die Demonstration des vollkommenen Selbst, das das Wesen der geistigen und ewigen Beziehung des Menschen zu Gott darstellt, findet auf einer Ebene statt, die der allgemeine menschliche Vollkommenheitsbegriff gar nicht berührt. Die geistige Vollkommenheit wird in unserem Leben nicht als eine menschliche Überlegenheit oder körperliche Fehlerlosigkeit sichtbar, sondern eher als tiefe Sanftmut und Demut, in der persönliche Wünsche und persönlicher Wille sich der göttlichen Wahrheit und Liebe unterordnen.
Als Christus Jesus von den Sanftmütigen sprach, die „das Erdreich besitzen“ Mt 5:5. werden, meinte er mit Sanftmut eindeutig nicht Unfähigkeit, Passivität oder mangelnde Entschlußkraft. Betrachten wir uns sein Leben, so erkennen wir vielmehr, daß Sanftmut die demütige Unterwerfung unter Gottes Gnade, unter Seine Barmherzigkeit und Seinen Willen ist. Dieses demütige Verhalten — das Ausschalten menschlicher Aggressivität und menschlicher Zwänge, die sich immer durchsetzen wollen — erschließt dem menschlichen Denken tatsächlich die Allheit des göttlichen Gemüts und die Idee Mensch, das Bild und Gleichnis Gottes. Der Weg zu dieser geistigen Vollkommenheit — die Jesus in seinem Leben demonstrierte und Mrs. Eddy in Wissenschaft und Gesundheit beschrieb — ist keine persönliche Gabe, die zu anderen Begabungen und Möglichkeiten hinzukommt. Er ist die geistige Wiedergeburt oder Umwandlung eines Menschen, bei der sich das fleischliche Gemüt oder die fleischliche Vernunft in der Gegenwart von Gottes göttlicher Idee, dem Menschen, auflöst. Diese Umwandlung ist die metaphysische Tätigkeit des göttlichen Gesetzes im menschlichen Bewußtsein, durch die wir zu erahnen beginnen, daß wir bereits die Kinder Gottes sind — in denen es weder Sünde, Schmerzen noch Krankheit gibt.
Wie lange kämpfen wir gegen das Fleisch? Solange, wie wir uns mit dem Fleisch identifizieren. Wenn wir uns geistig verteidigen, indem wir geduldig Schritt für Schritt die vielen Annahmen aufgeben, die uns veranlassen, uns als Sterbliche zu betrachten, werden wir das wirklich vollkommene Wesen des Menschen als Ausdruck des göttlichen Seins zu erkennen beginnen. Mrs. Eddy schreibt: „Es mag sein, daß der sterbliche Lebenskampf noch wogt, und er muß andauern, bis die damit verbundenen Irrtümer durch die siegbringende Wissenschaft bezwungen sind; aber dieser Sieg wird kommen! Gott steht über allem. Er allein ist unser Ursprung, unser Ziel und unser Sein. Der wirkliche Mensch ist nicht aus Erde gemacht, noch wird er je durch das Fleisch erschaffen; denn sein Vater und seine Mutter sind der eine Geist, und seine Brüder sind allesamt Kinder des einen Elterngemüts, des ewigen Guten.“ Rückblick und Einblick, S. 22.
Lassen Sie die Idee von der Vollkommenheit des Menschen bereitwillig in ihr Denken ein! Sie ist die geistige Hoffnung und Wirklichkeit, die aus der ewigen Einheit des Menschen mit Gott erwächst. Wenn wir sie in unserem Gebet, in unserem Streben und Verlangen, gut zu sein, verwirklichen — und die Reinheit und Güte des Menschen als Gottes Kind verstehen —, dann sind wir mit der Kraft ausgerüstet, alles Böse zu überwinden. Wir besitzen die natürliche Fähigkeit, alles zu überwinden, was das vollkommene Ebenbild Gottes im Menschen beflecken oder herabsetzen könnte. Das ist die Wissenschaft des Christentums.
 
    
