Als sie noch ein junges Mädchen war, hatte sie den brennenden Wunsch, eine große Ballerina zu werden. Aber sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Ihre Familie konnte sich nur das Notwendigste leisten. Es gab wenige Annehmlichkeiten; an den Besuch einer Ballett- oder Theaterveranstaltung war gar nicht zu denken. Oft erzählte sie, wie sie an den Sonnabendnachmittagen, das Ohr dicht ans Radio gepreßt, heimlich den Übertragungen aus dem New Yorker Opernhaus lauschte, denn ihr Vater hatte für diese Musik nichts übrig.
Sie hatte nur eine lückenhafte Schulbildung genossen. Schon frühzeitig mußte sie arbeiten gehen; als Büroangestellte wurde sie hart herangenommen. Auf irgendeine Wiese erfuhr sie etwas über die Christliche Wissenschaft. Durch diese wurde sie nach und nach von körperlicher Krankheit und Furcht geheilt und von den Fesseln der Vergangenheit frei.
Im Laufe der Jahre zeigte sich immer deutlicher, daß sie keine Ballerina werden würde. Als ich ihr zum ersten Mal begegnete, war sie schon seit vielen Jahren Sekretärin gewesen.
Was für ein erfülltes Leben sie durch den Gehorsam gegen Geist, Gott, genoß! Unzählige Dinge wiesen darauf hin. Durch ihre Gebete entfalteten sich in ihr neue Talente auf Gebieten, die sie vorher nie gekannt und mit denen sie sich nie beschäftigt hatte, wie z. B. in geschichtlichen Bereichen, im Verlagswesen, Rundfunkwesen und in der Literatur. Ungeahnte Begabungen zeigten sich — eine große Liebe zu Blumen, eine erstaunliche Geschicklichkeit, sie zu stecken, und eine unglaublich sichere Hand für Pflanzen.
Sie ging in ihrer Arbeit für Die Mutterkirche und in den göttlichen Wahrheiten, die sie in der Christlichen WissenschaftChristian Science (kr'istjən s'aiəns) lernte, völlig auf, und sie gewann dadurch unverkennbare Autorität. Nicht selten baten ihre Mitarbeiter sie, ihnen durch Gebet zu helfen.
Wenn sie zuweilen auch sehr direkt wurde und Dinge unverblümt beim Namen nannte, so konnten wir alle doch immer von ihr lernen. Sie brachte uns Wesentliches über Verständigung bei — insbesondere über die Vorbereitung des Herzens. Ich erinnere mich noch deutlich daran, daß ich mich einmal abmühte, einen besonders schwierigen Brief zu schreiben. Immer und immer wieder hielt er ihrer Prüfung nicht stand, einer Prüfung, der wir uns alle willig unterzogen. Schließlich — nach einer weiteren Überarbeitung — gab ich ihr den Brief zum Tippen. Als ich nach Tisch zurückkam, fand ich einen kleinen Notizzettel vor, auf dem einfach stand: „Meine Schreibmaschine tanzte und sang.“ Ihr Urteil bedeutete mir mehr als das freundliche Wort oder die freundliche Tat irgendeines anderen Menschen.
Ihr Traum, Ballerina zu werden, erfüllte sich nicht, aber anstelle dessen erlebte sie eine ganz andere, ungeahnte Erfüllung. Diese Frau erinnerte mich an die fünf klugen Jungfrauen aus Christi Jesu Gleichnis vom Bräutigam; sie hatten ihre Lampen gerichtet und waren daher bereit, den Christus zu empfangen. Auch diese Frau war der geistigen Wahrheit aus tiefstem Herzen treu. Deshalb hatte sie einen Platz bei etwas, was man in gewissem Sinn ein Hochzeitsmahl nennen könnte: Ihr Leben hatte einen unermeßlichen geistigen Zweck und Wert gewonnen.
Eine derartige geistige Erfüllung hat kaum etwas mit den begrenzten Umständen unseres Lebens oder unserer menschlichen Erwartungen zu tun. Wenn wir uns beständig der Christus-Idee zuwenden, so wird uns klar, daß Gott unser Leben ist und nicht das, was unsere Augen sehen. Dann wird der Christus, die große geistige Idee, unser Leben in die Hand nehmen. Das „Material“ unseres menschlichen Werdegangs wird neu gestaltet und umgewandelt, und zwar auf eine Weise, die alle unsere Vorstellungen übertrifft.
Dieser Vorgang mag zunächst fast unsichtbar sein; das ist jedoch nicht verwunderlich, denn auf die geistige Idee müssen wir zuerst in unserem Denken eingehen. Möglicherweise meinen wir gar, daß nach außen hin keine dramatische Wirkung sichtbar sei. Und doch bewirkt unser Gebet etwas, vielleicht gerade dann, wenn wir uns fragen, ob überhaupt etwas geschieht. Gebet bewirkt das Allerwichtigste: Es wandelt uns um.
Christus Jesus sagt uns mit seinen Gleichnissen mehr als einmal, daß seine aufsehenerregende Botschaft über die greifbare Gegenwart des Gottesreiches einer Einladung zu einem besonderen Festmahl gleicht — einer Einladung zu einem Hochzeitsfest. Siehe Mt 22:1–14; Lk 14:15–24. Überall herrscht große Freude darüber, wenn auch die Herzen der Gäste für das Fest vorbereitet sein müssen. Jesus ermahnt uns zu Demut und warnt uns vor jedem anmaßenden Verlangen, immer nach den besten Plätzen und den Ehrenplätzen auszuschauen. Siehe Lk 14:7–1 1.
Im Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy, wird gut beschrieben, was wir auf diesem Wege zu einem neuen und größeren Verständnis von Gott am meisten brauchen. Es heißt dort: „Solange das Herz fern ist von der göttlichen Wahrheit und Liebe, können wir die Undankbarkeit eines unfruchtbaren Lebens nicht verbergen. Am meisten bedürfen wir des Gebetes inbrünstigen Verlangens nach Wachstum in der Gnade, das in Geduld, Sanftmut, Liebe und guten Werken zum Ausdruck kommt.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 3.
Wenn wir der Einladung des Christus folgen, begreifen wir allmählich, daß alles, was wir uns je wünschen können, all das Gute des Weltalls und des Seins, in dieser neuen Erkenntnis enthalten ist, daß Gott, Geist, in der Tat unser Leben ist — und daß unser Leben nicht in der Materie ist. Diese Auffassung unterscheidet sich grundsätzlich von der allgemein üblichen Ansicht vom Leben; doch Schritt für Schritt wird uns klar, daß sie zuverlässig und wahr ist.
Wer das noch nicht erlebt hat, mag skeptisch sein. Er denkt vielleicht, wir hätten nur einen Weg gefunden, wie man mit den Härten und Enttäuschungen des Daseins fertig werden kann, wir redeten nur von einer anderen Form stoischer Gelassenheit. Das ist selbstverständlich nicht der Fall. Es geht nicht darum, daß wir versuchen, die Schwierigkeiten einfach unbeachtet zu lassen und uns für die Zukunft etwas Besseres auszumalen. Es geht vielmehr darum, daß wir die Augen offenhalten für alles, was jetzt wahr ist. Und das hat äußerst praktische Folgen und zeigt sich in körperlicher Heilung und Fortschritt.
Kein scheinbarer Mangel an Talent, Intelligenz oder Gelegenheit und kein vorangegangener Mißerfolg kann diese geistige Erfüllung verhindern, die der Gehorsam gegen den Christus mit sich bringt.
Es ist eine freudige Begebenheit, so als sei man zu einer Hochzeit eingeladen — zu einem Hochzeitsmahl.
Wenn du ein Mahl machst,
so lade Arme, Verkrüppelte, Lahme und Blinde ein,
dann wirst du selig sein.
Lukas 14:13, 14
