In jeder Großstadt sieht man Arme und Verwahrloste. Regierung und Stadtverwaltung suchen Wege, den Bedürftigen zu helfen. Oft ist es jedoch nur allzu leicht, sich diesen Anblicken zu entziehen und mit emsiger Geschäftigkeit weiterzuhasten. Lassen wir aus teilnahmsloser Blindheit das Elend der Armen unbeachtet oder weil wir nicht wissen, wie wir als einzelne reagieren sollen? Die allgemein fehlende Anteilnahme macht das Problem noch schlimmer. Bettler werden oft mit Worten oder körperlich mißhandelt, oder sie erleiden die Schmach, völlig ignoriert zu werden. Es ist, als ob sie unsichtbar wären. So leiden sie nicht nur unter ihrem finanziellen Elend, sondern auch noch unter tieferen Formen der Armut — nämlich unter emotionaler Leere und sogar seelischer Armut.
Kürzlich wurde mir klar, wie schwer es sein kann, auf Arme einzugehen, und wie sehr jeder Mensch wünscht, respektiert zu werden. Ich stand an einer Straßenecke in einer der größten Städte der Welt, als sich mir ein Fremder näherte und mich um Geld bat. Ich erinnerte mich an den Rat, den Freunde mir gaben, als ich meine Arbeit in der Stadt aufnahm, nämlich immer auf meine Handtasche zu achten und niemals einem Fremden Geld zu geben. Dieser Ratschlag klang mir noch in den Ohren, und so wandte ich mich dem Fremden zu, sah ihn an und sagte: „Es tut mir leid, ich kann es wirklich nicht.“ Ich wiederholte noch einmal: „Es tut mir wirklich sehr leid.“ Er sah mich mit solcher Freundlichkeit an und sagte: „Ich verstehe. Bitte, entschuldigen Sie sich nicht. Sie sind die erste, die mich nicht beschimpft hat.“ Dann streckte er seine Hand aus, berührte mich leicht und sagte: „Gott segne Sie" und verschwand in der Menge.
Es war ein qualvoller Augenblick für mich; ich wußte, daß ich eine bessere, warmherzigere Antwort finden mußte und daß ich lernen mußte, anderen wirksamer und mit größerem Mitgefühl zu helfen.
Als Christliche Wissenschafterin habe ich immer in der Bibel und im Leben und den Lehren Christi Jesu nach Antworten auf selbst die schwierigsten Fragen gesucht. Jesu Lehren und Heilungen dringen tief unter die Oberfläche menschlicher Angelegenheiten und enthüllen die geistige Wahrheit, die menschliche Situationen umwandelt. Ich überlegte mir, was er bei einer solchen Begegnung getan hätte. Dann fand ich die Geschichte vom blinden Bartimäus im Markusevangelium (siehe Mk 10:46–52). Der Bericht hatte eine noch stärkere Aussagekraft, als mir klar wurde, wie relevant die Botschaft für die heutige Welt ist.
Bartimäus saß da und bettelte. Als er schrie, um Jesu Aufmerksamkeit auf sich zu lenken (denn er hatte gehört, daß der Meister ganz nahe war), versuchten viele, ihn zum Schweigen zu bringen. (Selbst damals schienen die Menschen nicht zu wissen, wie sie die Armen behandeln sollten.) Sie wollten, daß er ruhig war und in der Menge unerkannt blieb. Aber Jesus hörte seinen Ruf und antwortete ihm. In Jesu Gegenwart war Bartimäus nicht unsichtbar. Der Meister behandelte ihn mit Höflichkeit und Respekt, und weiter wird berichtet, daß er Bartimäus auch von seiner Blindheit heilte. Die Geschichte schließt mit den Worten: „Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem Wege.“ Nicht nur gewann Bartimäus durch die Heilung das Augenlicht zurück und brauchte er nicht mehr zu betteln, sondern er fand dadurch auch einen neuen Lebenszweck.
Das ist also der Schlüssel zu der vornehmsten Mildtätigkeit — einer Mildtätigkeit, die heilt und so weitere menschliche Almosen überflüssig macht. Mrs. Eddy verstand dies und schrieb im Vorwort zu ihrem Buch Vermischte Schriften: „Ein gewisser Kernspruch eines Talmud-Philosophen deckt sich mit meiner Anschauung, Gutes zu tun. Er heißt: ‚Die vornehmste Mildtätigkeit ist‘ es dem Menschen zu ersparen, Mildtätigkeit anzunehmen, und das beste Almosen ist, einem Menschen zu zeigen, wie er ohne Almosen auskommen kann.‘“ Verm., S. ix.
Ist eine Mildtätigkeit, die es einem Menschen erspart, auf Almosen angewiesen zu sein, heutzutage möglich? Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß solche Mildtätigkeit durch ein tieferes Verständnis von Gott möglich ist. Denn wenn wir Gott besser verstehen, erlangen wir gleichzeitig ein tieferes Verständnis von dem geistigen Wesen des Menschen. Die Bibel bezeichnet das Wesen Gottes als Giest. Sie beschreibt den Menschen als den Ausdruck dieses Wesens. Im Brief an die Römer lesen wir: „Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi.“ Röm 8:16, 17. So ist der Mensch also in Wirklichkeit kein Sterblicher, der durch Armut seiner Selbstachtung, seines Wohlbefindens und der ganzen göttlichen Güte beraubt ist. In Wirklichkeit spiegelt der Mensch Gott, Geist, wider und ist daher auch selbst geistig.
Als geistiger Erbe wird dem Kind Gottes die reiche Fülle von Gottes Güte, Barmherzigkeit und Liebe zuteil. Die Allgegenwart und Allmacht Gottes als Geist widerlegen die Lüge, daß der Mensch ein Sterblicher sei, der allein und einsam in einer feindlichen Umwelt kämpft. Wenn wir aufhören, uns von einem sterblichen Standpunkt aus zu betrachten, und erkennen, daß jeder von uns das inniglich geliebte Kind Gottes ist, spüren wir Gottes Güte. Gottes Wesen schließt Vollkommenheit ein, und diese Vollkommenheit zeigt sich in Seinem geistigen Kind. Die Identität des Menschen ist unendlich viel mehr, als die körperliche Erscheinung andeutet. Sie ist von der Sterblichkeit — selbst von Demütigung und Nichtachtung — unberührt und ruht sicher in Gott. Das erklärt warum Jesus mit ganzem Herzen auf Bartimäus eingehen konnte.
Die Menschenmenge sah einen Bettler. Jesus erkannte den wahren Bartimäus, das geliebte Kind Gottes, kostbar und unverletzt, das das geistige Wesen Gottes widerspiegelt und zum Ausdruck bringt. Jesu richtige Sicht heilte den Bartimäus. Im Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, Wissenschaft und Gesundheit, erklärt Mrs. Eddy: „Die göttliche Natur fand ihren höchsten Ausdruck in Christus Jesus, der den Sterblichen die wahrere Widerspiegelung Gottes leuchten ließ und ihr Leben höher hob, als ihre armseligen Gedankenvorbilder es gestatteten — Gedanken, die den Menschen als gefallen, krank, sündig und sterbend darstellten.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 259.
Wahre Mildtätigkeit hebt das Leben höher. Sie erhebt die Menschen über das sterbliche Selbst — über die Vorstellung, von Gott getrennt, von Güte oder Nützlichkeit abgeschnitten zu sein —, indem sie das Bewußtsein zu der Erkenntnis erhebt, daß der Mensch eine geistige Natur hat und zugleich mit Gott besteht. Solche Mildtätigkeit gründet sich auf göttliche Liebe. Der Geist Gottes ist auch der Geist der Liebe. Mildtätigkeit bedeutet Liebe, eine anhaltende Zuneigung und dauerndes Wohlwollen der ganzen Menschheit gegenüber. Christliche Liebe verbindet beide, den Geber und den Empfänger, mit der heilenden Kraft Gottes. Sie erhebt den einzelnen zu bewußtem Einssein mit Gott. Sie rügt und heilt den Irrtum, der unser Leben leer erscheinen läßt oder uns an körperliche Krankheiten bindet. Jesus öffnete Bartimäus nicht nur die Augen sondern auch das Bewußtsein, so daß der Mann einen geistigeren Begriff vom Leben erlangte. Mrs. Eddy schreibt: „Barmherzigkeit [Mildtätigkeit] is Liebe, und Liebe öffnet dem Blinden die Augen, weist den Irrtum zurecht und treibt ihn aus.“ Verm., S. 210.
Solche Mildtätigkeit ist auch heute möglich. Eine Frau mit zwei Kindern sollte aus ihrer Wohnung ausgewiesen werden. (Sie hatte keine Arbeit und konnte weder die Miete noch die Heizkosten bezahlen.) Sie wußte nicht, wohin sie gehen sollte. In dieser Situation schlug eine Bekannte ihr vor, eine Ausüberin der Christlichen Wissenschaft anzurufen. Das tat sie. Die Ausüberin forderte sie auf, jeden Tag Christi Jesu Bergpredigt zu studieren, und sie betete mit ihr. Das Ergebnis war, daß die Frau begann, ihre geistige Natur und ihr Einssein mit Gott, der Quelle alles Guten, klarer zu erkennen. Und dabei eröffneten sich ihr und der Familie neue Möglichkeiten. Die Talente der Mutter wurden anerkannt und bald in einer neuen Stelle genutzt. Die finanzielle Not wurde überwunden, und sie konnten in ihrer Wohnung bleiben. Dadurch, daß diese Frau ein besseres Verständnis von Gott erlangte und die Lehren Jesu akzeptierte und danach lebte, erfolgte die Heilung, und sie fühlte sich wieder als vollwertiger Mensch.
Wenn die Menschheit das Problem der Armut auf dieser tieferen Ebene angeht, werden sich echte Lösungen zeigen. Wir brauchen nicht zu verzweifeln, wenn wir die scheinbar herzzerreißenden Bilder der Obdachlosigkeit und der Vernachlässigung sehen. Wir können geistig erkennen, daß niemand ohne Gott ist — ohne den Vater-Mutter Gott, der uns alle liebt — und daß nicht der Bettler, sondern das geliebte Kind Gottes die wahre Identität des Menschen ist. Dieser geistige Standpunkt hindert uns nicht daran, einem einzelnen oder einer Organisation, die Notleidenden hilft, etwas für wohltätige Zwecke zu geben. Aber unsere innigen Gebete machen unsere wohltätigen Gaben erst richtig wirksam; die Bedürfnisse der Menschen nach Obdach, Kleidung und Nahrung werden gestillt werden, und ihr Leben wird erlöst werden. Unsere Gebete können viel ausmachen.
