Erinnern Sie Sich an eine bestimmte Situation, in der ein Mitmensch Sie kritisierte — und wie heftig Sie reagierten und wie sehr Ihre Gefühle verletzt waren? Warum fällt es uns so schwer, Tadel hinzunehmen? Ist es nicht wegen des Bildes, das wir von uns selber haben — wegen des menschlichen Ego, mit dem wir uns identisch fühlen, und weil wir einen guten Eindruck machen möchten? Wir persönlich sind doch gut, nicht wahr — erfüllt von den besten Absichten, fähig, recht zu planen und auf die Ereignisse richtig zu reagieren? Aber hinter dieser Einstellung steckt die Ansicht: „ Wir sind fehlerlos und daher tadellose menschliche Wesen — der zu seinem eigenen Ebenbild geschaffene Mensch.”
Die Christliche Wissenschaft bezeichnet die Quelle solcher Reaktionen als den Glauben an ein persönliches, sterbliches Gemüt oder ein sterbliches Ich. Sie erklärt aber auch, daß solch ein Gemüt, solch eine Mentalität, eine Lüge sein muß, weil Gott allein allwissend ist, die eine wirkliche Intelligenz, das göttliche Gemüt. Und durch den geistigen oder göttlichen Sinn, der unsere immer gegenwärtige, uns von Gott gegebene Erkenntnisfähigkeit ist, erkennen wir, daß unser eigentliches Ich gottähnlich ist, das Ebenbild dieses Gemüts und deshalb vollkommen — so wie unser Vater-Mutter Gott vollkommen ist.
Christus Jesus sagte einmal: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ Das Selbstverleugnen und Kreuztragen, von dem Jesus spricht, besteht darin, daß wir einen sterblichen Begriff vom Selbst und einen persönlichen Begriff von Intelligenz ablegen und uns (und andere) als den von Gott zu Seinem Ebenbild geschaffenen Menschen ansehen und begreifen. Gott, Gemüt, kennt diesen Menschen als Seine Idee oder Widerspiegelung und daher als ewiglich gut, rein, harmonisch und vollkommen wie Er.
Das ist wahre Selbsterkenntnis — wenn wir unsere eigentliche, geistige Natur, wie Gott sie kennt, entdecken, sie als unsere einzige Natur anerkennen und sie im täglichen Leben sich auswirken lassen, indem wir auf Gott gegründete Qualitäten wie Langmut, Selbstbeherrschung, Einfühlung, Versöhnlichkeit praktizieren.
Deutet nun die eingangs geschilderte heftige Abwehrreaktion nicht auf Ichbezogenheit, Selbstgerechtigkeit und Eigenwillen hin? Die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, Mary Baker Eddy, vergleicht diesen Gemütszustand in Wissenschaft und Gesundheit mit „hartem Gestein“. Uns von diesen offenbar hartnäckigen, stahlharten sterblichen Charakterzügen zu trennen mag äußerst schwierig erscheinen. Und zweifellos bringt dieses Aufgeben der Sterblichkeit starke Herausforderungen und Kämpfe mit sich. Aber 'durch geistige Selbsterkenntnis wird diese Umwandlung nicht nur möglich, sie wird auch freudig geschehen. Und wenn wir lernen, uns nicht mit dem von uns selbst gemachten Bild im Wege zu stehen, beginnen die dunklen Schatten vor dem hellen, um sich greifenden Licht der Wahrheit und Liebe zu weichen.
In Wissenschaft und Gesundheit schreibt Mrs. Eddy im Kapitel „Gebet“: „Wir sollten uns prüfen, um zu erfahren, was die Neigung und der Vorsatz unseres Herzens ist, denn nur auf diese Weise können wir verstehen lernen, was wir tatsächlich sind. Wenn uns ein Freund auf einen Fehler aufmerksam macht, hören wir da seinem Tadel geduldig zu und schenken wir dem Gesagten Glauben? Sagen wir nicht vielmehr Dank, daß wir nicht sind, wie die andern Leute'? Viele Jahre hindurch ist die Verfasserin für verdienten Tadel sehr dankbar gewesen. Das Unrecht liegt in unverdienter Verurteilung, in der Unwahrheit, die niemandem nützt.“
Es ist unserem geistigen Fortschritt äußerst nützlich, angebrachten Tadel als göttliches Erziehungsmittel ansehen zu lernen. Er ist wie ein vorgehaltener Spiegel, der uns auf schlechte Gewohnheiten, Nachlässigkeiten und unbeachtete Fehlerquellen aufmerksam macht. Es lohnt sich, verdienten Tadel willig und dankbar entgegenzunehmen und demütig darüber nachzudenken. Nur auf diese Weise gelingt es uns, der Ichbezogenheit und Selbstgerechtigkeit den Rücken zu kehren — und sind wir bereit, uns als Ebenbild Gottes besser zu verstehen.
Wenn wir berechtigten Tadel anerkennen, lernen wir, immer williger auf die Stimme der Wahrheit in uns zu horchen, den christlichen Anweisungen der Nächstenliebe, der Versöhnlichkeit und Friedlichkeit zu folgen und so unser Leben als Gottes Kinder aus unserer Einheit mit der göttlichen Wahrheit und Liebe heraus zu gestalten. Wir dürfen gewiß sein, daß das folgende Wort Jesu auch für diese Situationen gilt: „Wer aber bis an das Ende beharrt, der wird selig werden.“
Unsere Seligkeit besteht darin, daß wir uns immer mehr des Einsseins mit Gott, der Quelle alles Guten, erfreuen und unsere Beziehungen zu unseren Mitmenschen immer mehr harmonisieren. Und das Ende, bis an das wir „beharren“, bedeutet niemals das Ende für uns oder für das Gute, sondern nur für das harte Gestein des menschlichen Willens, des Egoismus und der Eigenliebe.
Die göttliche Liebe leitet uns gewiß auf diesem Pfad der Seligkeit — sie behütet uns, lenkt uns und rüstet uns stets mit Zuversicht, Freudigkeit und Stärke aus. Wie dankbar können wir also für den christlichen Tadel sein, der uns auf diesem wunderbaren Weg voranbringt.