Als ich im vierten Schuljahr war, waren mein Freund und ich unzertrennlich. Wir radelten auf der Morningsidestraße. Wir kletterten auf die Kirschbäume neben unserm Haus, und wir pflückten auch die Kirschen, wenigstens die, die wir erwischen konnten, bevor die Vögel sie stibitzten. Sonnabends bauten wir Burgen und Schiffe in dem Waldstück zwischen den Häusern.
Neal fiel gewöhnlich immer etwas ein, was wir unternehmen konnten. Aber einmal hatte er eine Idee, die nicht sehr gut war. Wir waren mit unseren Rädern den Berg hinuntergeradelt zu Mortons Eckladen. Dort gab's alles: Notizbücher, Limonade, Kämme und Zahnpasta. Herr Morton war sehr freundlich; seine Tochter Barbara ging sogar in dieselbe Klasse wie wir.
Also, Neal und ich blätterten dort durch die Comic-Hefte, als er mir zuflüsterte: „Wetten, daß du dich nicht traust, einen Schokoriegel zu klauen?"
Ich war wirklich überrascht, daß Neal so etwas vorschlug. Aber wißt ihr, ich konnte das einfach nicht auf mir sitzenlassen. Niemand sollte mich einen Feigling nennen. Doch ich sagte: „Anstifter zuerst", in der Hoffnung, daß Neal einen Rückzieher machen würde.
Ich hatte nicht etwa Angst, aber ich wußte, daß Stehlen unrecht war. Man nimmt jemandem etwas weg, was ihm gehört, und meine Eltern hatten kein Verständnis für so etwas. Ich mochte daheim nicht mal 'nen Kaugummi von der Kommode meiner Mutter wegnehmen.
Im nächsten Augenblick sah ich, wie Neal schnurstracks zu den Süßigkeiten ging, drei Schokoriegel in die Tasche steckte und zur Tür hinausschlenderte. Ich glaube, ich wurde durch meine Sommersprossen hindurch rot bei dem Gedanken an das, was ich nun, wie ich meinte, tun mußte.
Es ist ganz seltsam, wie dieses Gefühl „Ich muß es tun" aufkommt. Es ist, als ob ein Nebel heraufzöge, und anstatt auf die eigenen Gedanken zu hören, beschäftigt einen nur das dunkle Gefühl „Ich muß es tun".
Aber wenn man im Innersten weiß, daß etwas falsch ist, braucht man es natürlich nicht zu tun. In meiner Sonntagsschule (der Christlichen Wissenschaft) hatten wir gelernt, wie Christus Jesus mit dem Ich-muß-es-tun-Nebel fertig wurde. Er wurde angestachelt, dumme Dinge zu tun. Ruhm und Macht waren die Köder, die ihn verleiten sollten. (Siehe Mt 4:5–10.) Er wurde geringgeschätzt, weil er mit verschiedenen Männern und Frauen befreundet war, die in der Stadt nicht respektiert wurden. (Ja, einige Leute, denen er helfen wollte und auch half, wurden sogar als Sünder bezeichnet.)
Aber Jesus kümmerte sich nicht darum, ob sich jemand über ihn lustig machte oder ihn davon abhalten wollte, zu sagen oder zu tun, was er für richtig hielt. Jesus sagte, daß wir in erster Linie Gott lieben müssen und daß Er unser Vater ist. Das sei das wichtigste Gebot, sagte er, und das nächstwichtigste sei, andere so zu lieben, wie wir uns selbst lieben. Wenn wir liebevoll sind und Gutes tun, lieben wir Gott, und das bedeutet, daß wir die Wahrheit lieben. Und da wir in Wirklichkeit Gottes Kinder sind, ist es natürlich für uns, die Wahrheit zu sagen. Letzten Endes sind wir am glücklichsten, wenn wir die Wahrheit sagen.
Ich wußte das alles — aber dort, in Herrn Mortons Geschäft, war mit einmal alles wie umnebelt. Ich betrachtete die Süßigkeiten, während ich halb dachte, ich träumte wohl und vielleicht würde mich jemand aufwecken. Dann versteckte ich einen Schokoriegel in meinem Ärmel und ging auf die Tür zu.
Herr Morton kam hinter der Sonnenbrillenauslage hervor und sagte: „Meine Liebe, ich glaube, du hast etwas, was dir nicht gehört."
Poch! Das Herz schlug mir bis zum Hals. Das Schlimmste, was mir passieren konnte, geschah. Jemand, den ich kannte und gern mochte, nannte mich einen Dieb. Ich fühlte mich wie ein Dieb, und das war das schlimmste und schrecklichste Gefühl.
Herr Morton ging mit mir in eine Ecke hinten im Geschäft und sprach ruhig, aber bestimmt, zu mir. Er sagte: „Ich weiß, du bist kein Dieb. Ich bin überzeugt, daß du weißt, daß man so etwas nicht tut." Er sagte, es bliebe nur zwischen uns beiden — er würde weder mit meinem Vater noch mit sonst jemand darüber sprechen — wenn ich ihm verspräche, nie wieder etwas zu nehmen, was mir nicht gehört. Er sagte, ich solle es nicht versprechen, weil ich erwischt worden sei, sondern weil Stehlen gegen die Gebote verstößt, und er wußte, daß wir in meiner Sonntagsschule die Gebote beachten.
Mir standen Tränen in den Augen, und ich sagte: „Ich verspreche es, Herr Morton. Ich weiß nicht, warum ich es getan habe, und ich werde nie wieder stehlen." Ich gab ihm die Schokolade zurück und ging hinaus. Ich war so bedrückt, daß ich mein Rad den ganzen Weg nach Hause schob.
Ich lernte folgendes daraus und erzählte später einiges davon auch Neal. Erstens, es schmerzte sehr, daß ich mich vor mir selbst schämen mußte. Zweitens, es kann Gutes bringen, wenn man in einem Fall einen Fehler gemacht hat. Ich bin zum Beispiel wachsamer geworden in bezug auf das Gefühl, „etwas tun zu müssen". Ich habe gelernt, daß es im Grunde niemals mein eigenes Gefühl ist und daß ich es nicht zu fürchten oder nicht darauf zu hören brauche.
Drittens, alle Gebote, die wir in der Sonntagsschule besprochen haben (ich nehme an, daß fast jeder sie kennt: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir; Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren; Du sollst nicht töten; Du sollst nicht stehlen ... "), können uns so nahe sein wie unsere eigenen Gedanken und uns sagen, was recht ist und was wir tun sollen. Das ist so, weil Gott, Wahrheit, uns zur Seite steht und wir Seine Söhne und Töchter sind. Und das bedeutet, daß wir in Wirklichkeit Ihm gleich sind, aufrichtig und gut.
Wir lernten einmal in der Sonntagsschule die biblische Verheißung: „Deine Ohren werden hinter dir das Wort hören: ,Dies ist der Weg; den geht! Sonst weder zur Rechten noch zur Linken.' " Wir sprachen über den Ausdruck „das Wort hören", ich wußte also, daß es so etwas gibt, aber ich wußte nicht genau, wie es zu hören sein würde oder wie ich darauf reagieren sollte. Was ich meine, ist, als ich in Herrn Mortons Geschäft hoffte, daß mich jemand aufwecken würde, war das vielleicht die Stimme, die sagte: „Dies ist der Weg ... "
Oder vielleicht war die Tatsache, daß Herr Morton mich erwischte, die Antwort auf mein Gebet. Das mag merkwürdig klingen. Aber Engelsgedanken — gute Gedanken — kommen auf die verschiedenste Art und Weise zu uns. Es ist vorgekommen, daß mir eine gute Idee aus einem Lied aus dem Liederbuch der Christlichen Wissenschaft oder etwas, was meine Mutter mir gesagt hatte, in den Sinn kam und mich vor Torheiten bewahrte.
Eines weiß ich — ich habe nie wieder gestohlen. Wie konnte ich auch, denn wenn ich auch nur in Versuchung geriet, hörte ich Herrn Morton sagen: „Ich weiß, du bist kein Dieb."
Ich glaubte früher, die anderen Kinder in meiner Sonntagsschule hätten wahrscheinlich nie etwas Böses getan. Ich glaubte, ich sei wohl die einzige, die je versucht hatte, Schokolade zu stehlen oder die sich mit ihrem Bruder stritt. Das Gefühl, daß ich die einzige Ungezogene sei, hatte zur Folge, daß ich manchmal nicht gern zur Sonntagsschule ging.
Aber dann sagte mir eine gute Bekannte, daß das Gefühl töricht sei, denn fast jeder lerne Schritt für Schritt. Jeder sollte zum Beispiel das kleine Einmaleins beherrschen, aber nicht jeder erhält jedesmal 54, wenn er 6 mit 9 multipliziert. Bei einer langen Multiplikationsaufgabe findet der Lehrer manchmal eine Stelle, wo man 6 × 9 = 53 geschrieben hat. Es ist besser, wenn man sie selbst findet. Das beste ist, wenn man seine eigenen Fehler ein für allemal selbst korrigiert, damit das Ergebnis von 6 × 9 immer 54 ist.
Wichtig ist, daß wir uns ständig bemühen, es besser zu machen, und daß wir einander helfen. Das wollte vielleicht auch Jesus andeuten, als er sagte: „Das ist mein Gebot, daß ihr euch untereinander liebt."
