Ist Es Ihnen auch schon einmal so ergangen, daß Sie sich einsam fühlten, obgleich Sie mit vielen Menschen in einem Raum zusammen waren? Ich führte viele Jahre ein aktives Leben und setzte mich sehr für die Belange meiner Umgebung ein — und litt dennoch unter Einsamkeit. Als Christliche Wissenschafterin bemühte ich mich aufrichtig zu verstehen, wie ich meinem Leben die scheinbar „fehlende Würze“ geben konnte.
Ich vertiefte mich in die Bibel und das Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, Wissenschaft und Gesundheit von Mary Baker Eddy, und erkannte dabei, daß ich bis dahin nur auf menschlicher Ebene Anerkennung und Befriedigung gesucht hatte. Mir wurde klar, daß ich in die falsche Richtung geblickt hatte. Ich sah ein, daß wirkliche Kameradschaft sich nicht aus dem Zusammensein mit anderen Menschen ergibt; sie entsteht vielmehr, wenn man die Beziehung des Menschen zu Gott versteht. Gott ist göttliche Liebe, und der Mensch ist der Ausdruck Gottes. Ein tieferes Verständnis unserer Identität als Ausdruck der göttlichen Liebe muß daher dazu führen, daß wir in größerem Maße fähig sind, zu lieben und geliebt zu werden. Mir wurde klar: Mein Wunsch nach echter Kameradschaft konnte sich nur erfüllen, wenn ich meine Beziehungen zu anderen auf eine geistige Grundlage stellte.
Eines Tages las ich im Johannesevangelium die Stelle, wo Christus Jesus — in Vorahnung seiner Kreuzigung — zu seinen Jüngern sagte: „Siehe, es kommt Stunde und ist schon gekommen, daß ihr zerstreut werdet, ein jeder in das Seine, und mich allein laßt. Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir.“ Es verwunderte mich, daß Jesus sich zum Zeitpunkt seiner Kreuzigung, als ihn sogar seine engsten Freunde im Stich ließen, nicht verlassen fühlte. Er vertraute auf die Allgegenwart seines himmlischen Vaters. Er wußte, daß er an keinem Ort, wie auch immer die Umstände aussahen, allein sein konnte, daß die Schöpfung nie vom Schöpfer getrennt werden konnte. Das Wissen Jesu um sein Einssein mit dem Vater gab ihm Kraft und Frieden, es brachte ihm keine Enttäuschung, Furcht oder Einsamkeit.
Jede neue wöchentliche Bibellektion machte auf Propheten, Jünger und andere Bibelgestalten aufmerksam, die durch ihre Hingabe an Gott Zufriedenheit und einen Zweck im Leben fanden.
Was mag beispielsweise Josef empfunden haben, als ihn seine Brüder in eine Grube warfen und ihn dort umkommen lassen wollten? (Siehe 1. Mose.) Bestimmt hat er gegen Wut und Verwirrung zu kämpfen gehabt. Aber die Bedeutung dieser Geschichte ist nicht in Josefs Einsamkeit zu sehen. Bedeutsam ist vielmehr seine ungebrochene Beziehung zu Gott. Durch sie wurde er vom Tod in der Grube errettet. Sein Vertrauen auf Gott war nicht zu erschüttern; auch dann nicht, als ihn Menschen betrogen, von denen er eigentlich Zuneigung erwartete, als er zu Unrecht unter Anklage stand oder ihm gar höchste Vollmacht und Amtsgewalt übertragen wurde. Ebenso unerschütterlich war offensichtlich Gottes Fürsorge und Schutz für ihn.
Josef nutzte jede Prüfung als Gelegenheit, um die Macht Gottes zu beweisen. Er zog es vor, allen, die ihm schaden wollten, Fluch mit Segen zu vergelten. Die Folge davon war, daß Josef zunehmend Herrschaft über hoffnungslose Situationen gewann und konkret bewies, daß er niemals allein oder außerhalb der Liebe Gottes sein konnte; zugleich wurde ihm wieder Zuneigung geschenkt, und er fand seine Familie wieder. Dieses Vertrauen auf das Gute ist der Christus, der immer in der menschlichen Erfahrung wirkt, und durch das Anerkennen des Einsseins von Gott und Mensch bringt es Heilung. Der wirkliche Mensch, Gottes Widerspiegelung, kann niemals von der göttlichen Liebe getrennt leben. Aber um das zu beweisen, müssen wir dieses Einssein anerkennen. Wir müssen das Wirken des Christus in unserem Leben anerkennen. Wenn wir an einem herrlichen Sonnentag erwachen, müssen wir erst unsere Augen öffnen, bevor wir uns an dem strahlenden Sonnenschein und der Schönheit des Tages erfreuen können. In ähnlicher Weise müssen wir bereit sein, unsere Beziehung zu Gott anzuerkennen, um daraus Nutzen zu ziehen.
Kameradschaft ein Ausdruck von Liebe. In dem Maße, wie wir verstehen, daß Gott Liebe ist und daß Er uns liebt, können wir ein erfülltes Leben führen, ohne dabei auf falsche Weise von anderen abhängig zu sein. Wir brauchen nicht nach Liebe zu suchen, wenn wir wissen, daß Gott immer für uns sorgt, weil Er Liebe ist. Wenn wir nicht länger Liebe suchen, sondern anfangen, Liebe auszudrücken, eröffnen sich uns ganz natürlich neue Wege zu tieferen Freundschaften.
Gutes wird uns niemals vorenthalten. Gott ist der Geber alles Guten, und Er gibt uns alles, was wir brauchen, und zwar dann, wenn wir es benötigen. Das gilt immer, auch zu Zeiten, in denen es uns vorkommt, als wären wir in eine Grube der Einsamkeit und des Alleinseins geworfen worden. Im Glossarium von Wissenschaft und Gesundheit definiert Mary Baker Eddy den Begriff Wüste als „Einsamkeit; Zweifel; Finsternis. Unmittelbarkeit des Gedankens und der Idee; der Vorhof, in dem der materielle Sinn der Dinge verschwindet und der geistige Sinn die großen Tatsachen des Daseins zur Entfaltung bringt. “Wenn wir eine selbstsüchtige, begrenzte Daseinsauffassung haben, werden wir vielleicht dazu gezwungen, uns mehr auf den geistigen Sinn zu verlassen, damit wir Gott und unsere Aufgabe in Seiner Schöpfung verstehen lernen. Furcht, Stolz, menschlicher Wille, Widerstand gegen Formen des Guten, die nicht unseren kulturellen Vorstellungen entsprechen: all das will uns ein Gefühl der Distanz zu unseren Mitmenschen aufdrängen!
Mein neugefundenes Verständnis brachte nicht plötzlich eine Veränderung in mein Leben. Es entwickelten sich keine neuen Beziehungen, die mir vielleicht das gebracht hätten, wonach ich zu suchen glaubte. Doch als sich mein Denken wandelte, entdeckte ich in den bestehenden Beziehungen manches, was mir bis dahin verborgen geblieben war. Mein Verständnis vom Wesen Gottes, von den vielen Aspekten seiner Individualität, nahm zu; mir fiel auf, daß viele Leute Gott und den Menschen rechtschaffen und hingebungsvoll dienen. Ich bemerkte, daß um mich her und auch mir gegenüber Liebe zum Ausdruck kam. Ich nahm das jedoch nicht länger als Selbstverständlichkeit hin, sondern zum ersten Mal empfand ich Dankbarkeit dafür und erwiderte solch liebevolle Gedanken und Taten.
Durch die neue Erkenntnis meines ungebrochenen Einsseins mit jener Liebe, die Gott ist, wurde mir klar, daß ich durchaus dazu in der Lage war, mehr gottähnliche Eigenschaften zu empfangen und auszudrücken. Mir wurde bald immer wichtiger, einfach liebevoll, freundlich und nützlich zu sein und gut nachbarschaftlich zu handeln, wobei es keine Rolle spielte, wo ich mich befand oder mit wem ich zusammen war. Ich hatte innere Erfüllung gefunden. Ich verstand endlich, daß wahres Glück im Geben liegt und nicht im Habenwollen.
Dem Gefühl der Einsamkeit in einem Raum voller Menschen können wir abhelfen, wenn wir uns stärker der Allgegenwart und Güte Gottes bewußt werden. Wir können uns niemals einsam fühlen, wenn wir von dem Bewußtsein erfüllt sind, daß Gott uns liebt und daß man es der göttlichen Liebe nie verwehren kann, sich in unserem Leben auf bedeutungsvolle Weise kundzutun.
