Wenn Ich An Kirchenmitgliedschaft denke, muß ich an Jakob denken. Das mag seltsam erscheinen, denn er hätte unter Kirche etwas ganz anderes verstanden als die Christen. Ich denke über Jakob nach, weil er sich der Gegenwart Gottes in seinem Leben so bewußt war — und das ist für eine lebendige Kirche überaus wichtig.
Vielleicht kennen Sie diese biblische Geschichte von Jakob — sie steht im ersten Buch Mose, Kapitel 27 und 28. Nachdem er seinen Bruder betrogen hatte, floh er gezwungenermaßen zu Verwandten, weil er seinen Bruder fürchtete. Auf der Flucht machte er für die Nacht halt, um sich auszuruhen. Im Traum sah er eine Leiter, die von der Erde bis zum Himmel reichte, und „die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder“.
Als Jakob aufwachte, verkündete er: „Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wußte es nicht! ... Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels.“ Was für eine außerordentlihe Entdeckung — so völlig unerwartet in dieser Wüste und Finsternis, in der er sich befand! Diese Engelsbotschaft von Gottes Fürsorge war gewiß bedeutungsvoll. Und doch lag ihm in dem Augenblick die Sorge um sein Leben, seinen Broterwerb und seine Kleidung sehr viel näher. Wenn für all das gesorgt war, wollte er gern hierher zurückkehren und sich eingehender mit der Angelegenheit befassen.
Manchmal sind unsere Gedanken über die Kirche ganz ähnlich wie Jakobs Verhalten gegenüber dieser Offenbarung von Gottes ganz direkter Gegenwart. Egal, ob wir schon Mitglied sind oder nur an diesen Schritt denken, wir haben in den Gottesdiensten etwas von der Gottesnähe gespürt. Wir mögen sogar innerlich ausgerufen haben: „Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels.“ Ja, es ist tatsächlich der Zugang zu Freiheit und Harmonie. Und doch schrecken wir, wie Jakob, davor zurück, auf diesen Impuls zu reagieren, Mitglied zu werden oder uns aktiver in der Kirche zu engagieren. Unsere menschlichen Anliegen und Sorgen scheinen so viel dringender oder wichtiger für uns zu sein.
Vielleicht liegen uns Gedanken im Weg wie: „Ich habe keine Zeit“ oder: „Meine Bindung an Familie, Beruf oder Studium läßt keinen Platz für zusätzliche Aktivitäten.“ Wir spüren eine Forderung nach geistigem Wachstum, die wir als Belastung empfinden, und wie Jakob suchen wir ihr durch eine Entschuldigung oder Verzögerung auszuweichen. Beruht dieses gefühl nicht auf einer falschen Vorstellung davon, was Kirche wirklich ist? Mrs. Eddy erklärt in Wissenschaft und Gesundheit, was Kirche bedeutet, und legt unter anderem ihre rein geistige Grundlage dar. Sie schreibt: „Der Bau der Wahrheit und Liebe; alles, was auf dem göttlichen Prinzip beruht und von ihm ausgeht.“ Das Gegenteil des göttlichen Prinzips wäre eine persönliche oder materielle Vorstellung von Identität. Dieser fleischliche Sinn ist es, der sich gegen unseren Einsatz im Bau der göttlichen Wahrheit und Liebe wehrt. Warum? Weil unsere Pflichterfüllung in der Kirche — die Hingabe an selbstlose, geistige Liebe und die Disziplin, dem göttlichen Prinzip statt einer menschlichen Meinung zu gehorchen — das Ende des persönlichen Sinnes bedeutet.
Diese persönliche, endliche Vorstellung von uns selbst aufzugeben mag wie ein schweres Opfer erscheinen. Wir mögen uns sogar wie Abraham vorkommen, als er meinte, Gott verlange von ihm, Isaak zu opfern. Wenn das aber der Fall ist, dann irren wir uns ebenso wie Abraham!
Wir opfern nicht unsere Individualität, sondern lassen die falsche, materielle Anschauung fahren, wir seien endliche Wesen, die nur begrenzte Aussichten und Gelegenheiten haben. Wenn wir uns geistig erkennen lernen, erleben wir die Befreiung, Erweiterung und Entdeckung, die den wahren Begriff vom Leben und von unserer Beziehung zu Gott ausmachen. Wie Jakob, so empfing auch Abraham eine Engelsbotschaft. Im letzten Augenblick erschien ihm ein Engel — eine klarere Erkenntnis der Liebe — und bewahrte ihn davor, einen schrecklichen Fehler zu machen, nämlich seinen Sohn zu opfern. Abraham dachte, Gott fordere von ihm sein geliebtes Kind, doch in Wirklichkeit war er aufgefordert worden, seinen persönlichen Sinn und die Annahme aufzugeben, Gott könne sowohl gut als auch böse sein oder müsse durch Opfer besänftigt werden.
Als er seinen Fehler erkannte, wurde ihm klar, was Opfern wirklich bedeutete. Und in dem Augenblick, so berichtet uns die Bibel, „hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder hinter sich in der Hecke mit seinen Hörnern hängen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes Statt“.
Für mich stellt der Widder den persönlichen Sinn oder die falsche Individualität dar. Er besteht aus eigensinnigen Gedanken, die sich selbst rechtfertigen wollen und ganz und gar gottunähnlich sind. Sie müssen abgelegt werden, wenn wir mit der Forderung, geistig zu wachsen, konfrontiert werden. Genau das mußte Abraham tun. Und auch wir können es tun, selbst wenn es uns einen Kampf kostet. Als ich noch nicht sehr lange Kirchenmitglied war, spielte sich bei mir solch ein Kampf ab.
Nach einem nicht sehr produktiven Tag am Webstuhl war ich erst gegen Abend so weit gekommen, daß die Arbeit voranging und mich befriedigte. Allerdings war es ein Mittwochabend, und ein Blick auf die Uhr erschütterte meinen Frieden. Wenn ich nämlich die Mittwochversammlung in der Kirche besuchen wollte, dann mußte ich sofort mit der Arbeit aufhören, mich fertigmachen und den einstündigen Weg in die Stadt antreten.
Wollte ich das, oder wollte ich es nicht? Oder genauer: Sollte ich es wollen? Damit begann ein innerer Kampf zwischen Selbstrechtfertigung und Beqemlichkeit auf der einen Seite und dieser stillen, aber eindringlichen inneren Stimme andererseits. Alle Versuche, sie zu überhören, mißlangen, und so machte ich mich widerstrebend auf den Weg. In der Kirche angekommen, war der Unwille gebrochen, denn die Lesungen und die Heilungserfahrungen anderer beflügelten mich so, daß ich meine Arbeit auch danach noch fertigstellen konnte. Aber es brachte noch mehr Gutes mit sich.
Am nächsten Mittwoch dachte ich rechtzeitig an meinen Aufbruch, und mir kam der Gedanke, den Christian Science Monitor und den Herold der Christlichen Wissenschaft mitzunehmen. Diese inspirierende Lektüre machte die Fahrt von da ab sehr kurzweilig und stimmte mich auf die Zeugnisversammlungen ein. Die Pflicht zum regelmäßigen Besuch der Gottesdienste war nicht länger eine Last, sondern eine Bereicherung, die ich nicht mehr missen wollte.
Dieser unbedeutend anmutende Moment der Selbstüberwindung brachte viel Gutes mit sich! Ich las von da ab die Zeitschriften regelmäßig, nahm aktiver an den Gottesdiensten teil und erlebte durch diese frischen Ideen und ihre Anwendung viel Fortschritt. Unter anderem zog ich um und wohne jetzt nur noch eine Viertelstunde von der Kirche entfernt. Für mich war das kein Zufall: Die lange Fahrzeit hatte sich verkürzt, weil ich sie nicht mehr als lästig, sondern voll Inspiration erlebte.
All diese Verpflichtungen, die uns so schwierig erscheinen mögen, wenn wir an Kirchenmitgliedschaft denken, werden entschärft, wenn wir erfassen, was eigentlich von uns verlangt wird. Den Lehren Christi Jesu gemäß sollen wir uns von der menschlichen Persönlichkeit abwenden und den persönlichen Sinn ablegen, um den Christusgeist anzuziehen, der uns befähigt, zu heilen. Mit diesem Ziel vor Augen geht es bei unserer Arbeit in einem Amt, das uns in unserer Zweigkirche übertragen wird, nicht in erster Linie darum, eine Kirchenorganisation aufrechtzuerhalten, etwas für einen guten Zweck zu tun oder unsere Zeit mit einer lästigen oder auch willkommenen Nebenbeschäftigung auszufüllen. Es geht vielmehr darum, geistig zu wachsen durch das Anerkennen des einen Gemüts in unserer Zusammenarbeit mit anderen Mitgliedern und das Lauschen auf die Eingebungen der Wahrheit und Liebe — sei es bei Vorstandsentscheidungen, beim Sonntagsschulunterricht oder beim Gestalten der Gottesdienste. All das verlangt das Aufgeben von Eigenwillen und persönlichen Meinungen und fordert Wachsamkeit, Nächstenliebe und Opferbereitschaft. Je mehr wir uns den göttlichen Gedanken der Wahrheit und Liebe in den Gottesdiensten öffnen, und je mehr wir das Handbuch Der Mutterkirche von Mary Baker Eddy befolgen, desto leichter ist es für uns, begrenzte, furchtsame, eigensinnige oder selbstgerechte Einstellungen zu entdecken und sie zu opfern. Dadurch erleben wir Heilung.
In der Welt, im Berufs- und Familienleben werden wir oft mit unseren sündigen, auf Unwissenheit beruhenden Annahmen akzeptiert und in Ruhe gelassen. Aber bei unserer Kirchenarbeit werden wir solche Annahmen opfern müssen, weil dort die umwandelnde Macht der Wahrheit wirksam ist. Gewiß werden wir dabei ringen müssen wie Abraham. Aber wir sind nicht alleingelassen. Wir haben den Engel, den wir brauchen, — die göttliche Inspiration — zur Hand. Wie? Durch die Einrichtungen der Kirche, wie die Gottesdienste und die Zeitschriften, erhalten wir die Gedanken, die wir brauchen, um den persönlichen Begriff von uns oder anderen aufzugeben.
Wenn geistige Erkenntnisse und Inspiration unser Denken in Bewegung halten, uns erfüllen und motivieren, können wir sicher sein, daß unser Leben auf den Felsen, Christus, die Wahrheit, gegründet ist — auf die immerwährende geistige Substanz. Wir erleben mehr von den Eigenschaften der Wahrheit und Liebe, wie Beständigkeit, innere Ruhe, Zufriedenheit, Inspiration, Freude. Und wir tragen dazu bei, daß die Kirche ihren Zweck erfüllt, den Mrs. Eddy in Wissenschaft und Gesundheit folgendermaßen beschreibt: „Die Kirche ist diejenige Einrichtung, die den Beweis ihrer Nützlichkeit erbringt und die das Menschengeschlecht hebt, das schlafende Verständnis aus materiellen Annahmen zum Erfassen geistiger Ideen und zur Demonstration der göttlichen Wissenschaft erweckt und dadurch Teufel oder Irrtum austreibt und die Kranken heilt.“
Aktives Tätigsein in einer Kirche bietet uns ein sehr praktisches Instrument, um ein besseres und heilenderes Leben zu erfahren. Ja, es ist genauso praktisch wie die Leiter, die Jakob von der Erde bis zum Himmel reichen sah, und wie der Widder, den Abraham in der Hecke fand. Opfern wir doch unseren „Widder“, und benutzen wir diese Leiter zum Aufstieg, indem wir den Engeln folgen — den göttlichen Gedanken, die Gott uns schickt.
