Als Die Öffentlichkeit 1989 plötzlich erahnte, wie dramatisch sich die Ereignisse in Mittel- und Osteuropa zuspitzten, diskutierten wir im Freundeskreis regelmäßig die aktuellsten Neuigkeiten. Wir fragten uns, was wir von den Aussichten und Risiken einer radikalen Entwicklung halten sollten, die manchmal abwechselnd Wogen der Hoffnung und der Ernüchterung auslöst. Die Prognosen über die allernächste Zukunft fielen äußerst unterschiedlich aus; sogar erfahrene Politiker und andere Experten bekundeten Mühe, ihre Meinung über die Auswirkungen erfolgter Schritte zu formulieren.
In solchen Momenten tauchen unumgänglich Fragen auf: Was ist eigentlich die treibende Kraft hinter all dem Weltgeschehen? Ist diese Kraft überhaupt in irgendeiner Weise beeinflußbar? Oder werden wir alle schließlich nur zu hilflosen Beobachtern des globalen Geschehens?
Die Welt wird zunehmend zum Schauplatz von revolutionierenden Entwicklungen. Dinge, die früher kaum für möglich erachtet wurden, nehmen plötzlich Gestalt an. Andererseits werden die Probleme in verschiedenen Bereichen, wie zum Beispiel der Umwelt, fast erdrückend komplex.
Bei all dem geht es um unsere innersten Anschauungen von Leben, Frieden und Freiheit. Wir sind alle angesprochen und gefordert, die gedankliche Grundlage des Geschehens klarer zu erforschen, es besser zu verstehen und das eigentliche Fundament des Fortschritts zu erkennen. Uns wird dann klar, daß die wichtigste Dimension, mit der wir es zu tun haben, die geistige ist.
Wenn heute zum Beispiel die Länder in Europa enger zusammenwachsen, ist es wichtig, die geistige Dimension von Einheit deutlicher zu erfassen. Geht es da ausschließlich um ein äußeres Näherrücken — um das freie Bewegen von Personen, Kapital, Waren und Dienstleistungen? Oder gibt es zum Begriff Einheit eine tiefere Betrachtungsweise?
Als ich mich mit dem Thema geistige Einheit befaßte, war mir folgende Stelle aus Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy, der Entdeckerin und Begründerin der Christlichen Wissenschaft
Christian Science (kr'istjen s'aiens), sehr hilfreich: „Wie ein Wassertropfen eins ist mit dem Ozean, wie ein Lichtstrahl eins ist mit der Sonne, so sind Gott und der Mensch, Vater und Sohn, eins im Wesen. In der Heiligen Schrift lesen wir:, Denn in Ihm leben, weben und sind wir.'” Diese geistige Einheit von Schöpfer und Schöpfung, vom göttlichen Geist und dem Ausdruck des Geistes, bildet die Grundlage für jede progressive menschliche Zusammenarbeit, sei’s im politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Bereich. Das Neue Testament zeigt uns, daß Christus das einzige Fundament ist, auf dem man wahrhaft aufbauen kann, und bestätigt, daß wir allesamt einer in Christus sind.
In dem Maße, wie wir darum beten, Gottes Stimme zu hören und Ihm zu gehorchen, werden wir im Verständnis der geistigen Einheit wachsen und diese Einheit in unseren Beziehungen zu anderen verkörpern. In Wissenschaft und Gesundheit heißt es: „Die wissenschaftliche Einheit, die zwischen Gott und dem Menschen besteht, muß im praktischen Leben ausgearbeitet werden, und der Wille Gottes muß allüberall geschehen.“
Sind wir jedoch realistisch, wenn wir erwarten, daß Gebet einen Einfluß auf die Beziehung zwischen Menschen und Nationen hat, die vielleicht meinen, gute Gründe zu haben, mißtrauisch zu sein? Viele, die sich schon bei Schwierigkeiten in ihren eigenen Beziehungen auf die Hilfe Gottes verlassen und sie erhalten haben, beantworten diese Frage mit Ja. Die Bibel nennt Beispiele dafür, wie die Macht des Gebets eine Veränderung im Herzen bewirkt hat, eine Umwandlung, die eine größere Einheit zwischen den Menschen ermöglichte.
Das erste Buch Mose erzählt beispielsweise von Jakob, der sich zunehmend vor seinem Bruder Esau fürchtete, den er um das Erstgeburtsrecht betrogen hatte. Eine Veränderung — eine Umwandlung seines Charakters — war vonnöten. Jakob mußte die gegenwärtige Tatsache, daß der Mensch in ungebrochener Beziehung zu Gott steht, besser erkennen und demonstrieren. Der innere Kampf, den er am Pnuël auszufechten hatte, bewirkte diese Umwandlung. Er spürte Gottes Gegenwart und Schutz ganz deutlich, nachdem er in seiner gedanklichen Dunkelheit mit der Furcht und einer materialistischen Lebenseinstellung gerungen hatte. Er sagte schließlich, er habe Gott „von Angesicht“ gesehen. Als Resultat dieser geistigen Klarheit und Veränderung seines Charakters sah er auch seinen Bruder in einem neuen Licht. Als er zu ihm ging, wurde er von Esau auf unerwartet versöhnliche Weise empfangen.
Wir können viel für unser näheres Umfeld, ja sogar für das globale Feld beitragen, wenn wir in unserem Herzen die geistige Einheit zwischen Gott, dem göttlich Guten, und Seinem Gleichnis, dem Menschen, anerkennen. Wie wichtig ist es auch, daß wir unser Gebet im praktischen Leben verwirklichen, indem wir Gott gehorchen und der Inspiration folgen, die aus solchem Gebet kommt, wenn wir auch manchmal um die geistigen Einsichten ringen müssen.
Um hilfreich zu sein, spielt es also kaum eine Rolle, ob wir in der Politik oder Wirtschaft einflußreiche Stellen innehaben oder ob wir das Weltgeschehen eher von ferne betrachten. Die Notwendigkeit, ein stets wachsendes Verständnis unserer Einheit mit Gott zum Ausdruck zu bringen, richtet sich gleichermaßen an Familienangelegenheiten, Beziehungen zu Freunden und Nachbarn wie auch an größere Wirkungskreise. Und natürlich schärft dieses wachsende Verständnis unsere Wahrnehmung der göttlichen Allgegenwart und Allmacht auch auf der globalen Szene.
In meinem Berufsleben in der Erwachsenenbildung konnte ich während mehrerer Jahre miterleben, wie fruchtbar es ist, die geistige Einheit von Gott und Mensch als wirklich und wirksam anzuerkennen. Ich hatte oft Klassen zu unterrichten, deren Schüler aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen und verschiedenen Berufen kamen. Manchmal ergaben sich Konflikte, die angegangen werden mußten, und ich war stets froh, wenn ich wachsam genug war, mir über die geistige Dimension von Einheit Gedanken zu machen. Manch eine Situation erfuhr eine erfreuliche, manchmal sogar eine etwas unerwartete Wendung, als das Einssein des Menschen mit Gott klar und furchtlos ins Bewußtsein drang. Durch diese Erfahrungen wuchs meine Überzeugung, daß das Anerkennen von Gottes Allmacht und das Verständnis, daß der Mensch das göttliche Wesen zum Ausdruck bringt, eine Wende zum Besseren herbeiführen kann.
Bei dieser Arbeit halfen mir im Gebet gewonnene göttlich inspirierte Ideen auf wundervolle Weise. Oft war es nötig, nicht nach Schuldigen zu suchen, sondern die unversehrte Beziehung des Menschen zu seinem göttlichen Urquell besser zu erkennen. Ich konnte beobachten, daß Situationen sich besserten, mehr Offenheit und Verständnis zu erkennen waren, wenn die Regierung des einen unendlichen Gemüts anerkannt wurde. Ich konnte Stagnation auf der einen Seite oder Widerwillen auf der anderen besser meistern, als klarer wurde, daß Fortschritt eine Naturnotwendigkeit ist — ein göttliches Gesetz.
Das, was unsere Welt heute vielleicht am nötigsten braucht, ist nicht nur, Gottes Willen, das allumfassend Gute, „wie im Himmel so auf Erden“ geschehen zu lassen, sondern um ein Verständnis der Allmacht Gottes und der untrennbaren Beziehung des Menschen zu Ihm zu beten. Dies ist eine sichere Grundlage für wachsende Einheit und größeren Fortschritt.
Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch.
Bleibt in meiner Liebe! Das sage ich euch, damit meine
Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde.
Das ist mein Gebot, daß ihr euch untereinander liebt,
wie ich euch liebe. Ihr seid meine Freunde,
wenn ihr tut, was ich euch gebiete.
Johannes 15:9, 11, 12, 14
