Drei Wochen Bevor es in Los Angeles nach dem Freispruch der Polizisten, die Rodney King zusammengeschlagen hatten, zu Ausschreitungen kam, besuchte ich am Mittwochabend einen christilich-wissenschaftlichen Gottes-dienst. Mein bekümmertes Herz hungerte nach der Botschaft Gottes; der Aufruhr, die Unruhe und Feindseligkeit in unserer Welt lagen mir schwer auf der Seele.
An jenem Abend enthielt die Lesung in der Kirche unter anderem auch die Geschichte, wie Jesus seinen Jüngern die Füße wusch. Das lehrte mich, wie wichtig brüderliche Liebe ist.
Dann kam mir zu Bewußtsein, wie oft die wöchentlichen Bibellektionen während des vergangenen Jahres Berichte darüber enthalten hatten, daß die Apostel für ihre „Brüder“ beteten. Mir wurde klar, daß wir alle für unsere „Brüder“ beten sollten. Es ist eine christliche Forderung. Das bedeutet nicht, daß wir für jeden einzelnen speziell beten müßten oder könnten. Doch wir können uns klarmachen, daß alle Menschen unter der göttlichen Leitung und Fürsorge stehen; daß jeder in Wahrheit ein einzigartiger, individueller Ausdruck Gottes ist und daß die Kinder Gottes unmöglich in die Irre geführt oder falsch regiert werden können.
Am darauffolgenden Mittwoch hatte die Lesung Bezug auf stürmische und unharmonische Situationen. Dabei wurde die folgende Stelle aus Wissenschaft und Gesundheit von Mary Baker Eddy verlesen: „In der Vision des Johannes bedeuten Himmel und Erde geistige Ideen, und das Meer, als das Sinnbild der sturmbewegten menschlichen Begriffe, die da kommen und gehen, wird als vergangen dargestellt. Das göttliche Verständnis herrscht, ist alles, und es gibt kein anderes Bewußtsein.“ Ich sah klar, daß meine Gebete für die Welt auch das Verständnis einschließen mußten, daß die „sturmbewegten menschlichen Begriffe“ keinerlei Einfluß auf den wirklichen Menschen haben können, da er ausschließlich von Gott, dem göttlichen Gemüt, regiert wird. Der Mensch ist nicht eine Schachfigur in einem undurchschaubaren, grausamen Spiel, sondern die Widerspiegelung des einen unendlichen, unveränderlichen Gemüts, in dem es weder Streit noch Trennung gibt.
Gegen Mittag des Tages, an dem der Urteilsspruch im Fall King verkündet worden war, tauchten plötzlich Demonstranten in einer Straße in der Nähe meines Arbeitsplatzes auf. Später konnten wir den Lärm der Demonstration und der darüber kreisenden Hubschrauber bis zu uns hören. Die Demonstranten drohten damit, den gesamten öffentlichen Verkehr lahmzulegen, und ich hielt es für vernünftig, eine Verabredung für den Nachmittag abzusagen und mit meiner Tochter, die im selben Gebäude arbeitet, nach Hause zu fahren. Wir machten uns also auf den Heimweg, jede in ihrem Auto. Sie fuhr vor mir her.
Kurz bevor wir die Autobahn erreichten, bemerkte ich, daß der Verkehr vor uns ins Stocken kam. Plötzlich war das Auto meiner Tochter von einem Heer wütender Demonstranten umringt. Als sie schließlich freikam, rannte alles zu meinem Wagen. Einer der empörten jungen Leute kam mit erhobener Faust direkt auf mich zu.
Ich war durch die Lesungen in der Kirche und meine Bemühungen, selbstlos zu lieben, so gut vorbereitet, daß ich mich sofort im Gebet an Gott wenden konnte und in dieser schwierigen Lage nicht erst lange Gottes Führung zu suchen brauchte. Gottes Wahrheit war bereits bei mir. Furcht kam gar nicht auf. Ich war sicher, daß diese jungen Männer in Wirklichkeit nichts als die schuldlosen und geliebten Kinder Gottes sein konnten, meine Brüder. Und so war es jetzt für mich das Natürlichste von der Welt, diesem jungen Mann zuzulächeln — und als ich das tat, löste sich die Wolke von Wut und Haß auf. Er lächelte zurück, und die anderen lächelten auch. Sie gaben den Weg frei, so daß ich ungehindert weiterfahren konnte.
Dieser kleine Vorfall war eine große Lehre für mich. Ich lernte, daß Wut und Haß von anderen gottlosen Eigenschaften genährt werden — von Furcht, Groll, Selbstgerechtigkeit und Verwirrung. Doch wie ausgeprägt und furchteinflößend diese falschen Eigenschaften des Denkens auch zu sein scheinen — in der Gegenwart der Liebe Gottes zerplatzen sie wie eine Seifenblase.
Foster City, Kalifornien, USA
