Es ist ganz natürlich, daß wir uns liebevoll um die Menschen in unserer Umgebung kümmern. Wirkliche Liebe zur Familie umfaßt auch die Nachbarn und strahlt aus auf die ganze Gesellschaft. In dieser gelegentlich erscheinenden Spalte wird geschildert, wie eine geistige Perspektive einzelnen Lesern geholfen hat, zur Lösung von Problemen beizutragen, vor denen wir und unsere Mitmenschen heute stehen.
Vor einigen Jahren lagen zwei meiner Nachbarn miteinander in Fehde. Ich wohnte genau zwischen beiden Parteien, und jeder der beiden klagte mir sein Leid über den anderen. Ich mochte beide Nachbarn gern und betete verschiedentlich um eine liebevolle Lösung des Problems. Nach jedem Gebet fühlte ich mich besser, und rückschauend kann ich sagen, daß uns allen dadurch geholfen wurde; und doch hatte ich das Gefühl, daß es in dieser Situation noch mehr zu lösen gab.
Eine Wende trat ein, als ich nicht einfach für meine eigene Nachbarschaft betete, sondern für die Weltgemeinschaft im allgemeinen und für die Geiseln im Nahen Osten im besonderen. Es schien mir, daß dieser Konflikt zwei Seiten hatte, die durch Haß auf der einen und Furcht auf der anderen Seite gekennzeichnet waren. Als ich etwas intensiver darüber betete, wurde mir bewußt, daß beide Parteien gleichermaßen Gefangene dieser Gefühlsregungen waren. „Der Feind“ waren nicht andere Völker. Der Feind war eine materielle Lebensauffassung. Der Feind bestand in dem Glauben, daß uns etwas anderes als Gott, das Gute, regiere, daß wir fürchten müßten, in die Gewalt einer anderen Macht zu geraten, deren gegensätzliche Ansichten großen Haß erzeugen. Beide Haltungen scheinen notwendig zu sein, wenn man Gottes gütige Regierung und Fürsorge außer acht läßt.
Nach weiterem Gebet und Studium der Bibel und der Schriften von Mary Baker Eddy erkannte ich, daß die Ketten der Furcht und des Hasses durch die Erkenntnis der liebevollen Herrschaft Gottes gesprengt werden. Mir wurde ganz klar, daß unser Wohlergehen uns erhalten bleibt, wenn wir einsehen, daß unsere wahre geistige Identität nicht an solche Gefühlsregungen gekettet werden kann (die ja ohnedies keine Grundlage im Kind Gottes haben).
Sehr aufschlußreich war für mich der Bericht einer befreiten Geisel. Der Mann erzählte, was er in der Gefangenschaft gelernt hatte: In dem Maße, wie er sich darauf verließ, daß Gott sein Leben regierte, brauchte er die mentalen und physischen Beschränkungen der Gefangenschaft nicht anzunehmen. Ununterbrochen versuchte er, Liebe zu entdecken und selbst Liebe auszudrücken. Nach seiner Freilassung meinten die Ärzte, die ihn untersuchten, die Gefangenschaft habe bei ihm keine emotionalen oder physischen Narben hinterlassen. Der ehemalige Gefangene deutete sogar an, daß die Geiselhaft ihn innerlich bereichert habe.
„Du sollst nicht ehebrechen;
du sollst nicht
töten; du sollst nicht
stehlen; du sollst nicht
begehren“, und was da
sonst an Geboten ist,
das wird in diesem Wort
zusammengefaßt: „Du
sollst deinen Nächsten
lieben wie dich selbst.“
So ist nun die Liebe des
Gesetzes Erfüllung.
Römer 13:9, 10
Was ich hier über Freiheit hörte, bewegte mich zutiefst, und ich konnte deutlicher die mentalen Ketten sehen, die meine Nachbarn an Haß und Furcht gefesselt hielten. Doch wie eine Mutter oder ein Vater, der sein Kind leiden sieht, verspürte ich eine tiefe Liebe zu beiden Nachbarn, die all meine negativen Empfindungen beseitigte. Ich bekam eine Ahnung von jener reinen und befreienden Liebe, mit der Gott jedes Seiner Kinder liebt. Die scheinbare Macht des Hasses oder der Furcht schmilzt in der Wärme, die von dieser Liebe ausstrahlt, einfach dahin.
Die Fehde war danach zu Ende. Sie verschwand einfach von der Bildfläche. Die eine Nachbarin gab zu, daß es hilfreich wäre, wenn sie gewisse Dinge änderte, und sie machte einige wichtige Zugeständnisse, zu denen sie vorher nicht bereit gewesen war.
Ich will damit nicht sagen, daß sich diese Nachbarn nun jedesmal umarmen, wenn sie sich begegnen. Aber sie streiten sich nicht mehr. Unsere nachbarschaftlichen Beziehungen sind stärker geworden, und die ganze Nachbarschaft scheint sich nähergekommen zu sein durch das, was wir durchgemacht haben, und dadurch, daß sie miterleben konnten, wie Haß und Furcht durch Liebe und Rücksichtnahme besiegt wurden.
