Eines Nachts Hatte ich mich stundenlang im Bett hin- und hergewälzt. Erinnerungen an eine vor etlichen Jahren gemachte bittere Erfahrung ließen mich nicht los. Demütig bat ich Gott um Hilfe und lauschte. Dann kam mir der Gedanke: „Ich werde mich nicht zu dir legen.” Meine erste Reaktion hierauf war: „Was soll diese Antwort?” Wieder kam der Gedanke ganz klar: „Ich werde mich nicht zu dir legen.”
Dann fiel mir die biblische Geschichte von Josef ein, der in die Sklaverei verkauft worden war. Wie wir im ersten Buch Mose (Kap. 39) lesen, erkannte sein Herr Potiphar, daß Gott mit Josef war, und so setzte er ihn als Aufseher über sein Haus ein und tat alles, was er hatte, unter seine Hände. Aber dann bedrängte Potiphars Frau Josef und versuchte, ihn in ein unrechtmäßiges Verhältnis zu verwickeln. Josef jedoch „gehorchte ihr nicht, daß er sich zu ihr legte und bei ihr wäre”. Er wußte, daß er moralisch unrecht handeln würde, wenn er ihren Verführungen nachgäbe; aber weit mehr noch war ihm klar, daß er „gegen Gott” sündigen würde.
Meine eigene Situation war zwar völlig anders als die, in der Josef sich befand, doch ich erkannte, daß die Erinnerungen an eine bittere Erfahrung eigentlich nichts anderes waren als Versuchungen, die mich herabziehen wollten. Da lag ich nun — buchstäblich — mit ihnen im Bett! Mir wurde klar, daß man dies als Sünde gegen Gott betrachten könnte. Weshalb? Weil ich leugnete, daß Gott, das Gute, Alles ist. Ich hielt das Böse für ebenso wirklich wie das Gute und oft für mächtiger.
Mir wurde bewußt, daß ich auch das wahre Wesen des Menschen nicht anerkannte, der der Bibel gemäß zu Gottes Bild und Gleichnis geschaffen ist. Der wirkliche Mensch spiegelt Gottes Güte und Reinheit wider; er kann weder sündigen noch das Opfer von Sünde sein, also auch nicht ständig der Erinnerung an Sünde ausgesetzt sein. Der Mensch Gottes ist kein Sünder. Das Ebenbild Gottes, der göttlichen Liebe, kann Lieblosigkeit weder erleiden noch zum Ausdruck bringen. Und wie wir in der Christlichen Wissenschaft lernen, ist allein diese geliebte und liebevolle Widerspiegelung Gottes unser wahres Selbst.
Zur Sünde zählt auch die Annahme, daß der Mensch seine vollkommene Beziehung zu Gott verloren habe und ein Sterblicher geworden sei mit einem eigenen persönlichen Gemüt, das nicht nur böse Gedanken hegen und Böses tun kann, sondern auch den bösen Gedanken und Handlungen anderer ausgeliefert ist. Diese falsche Annahme behauptet, der Mensch zu sein, ist es aber nicht. Der wirkliche Mensch kann nur etwas denken und tun, wozu sein Schöpfer, das göttliche Gemüt, ihn veranlaßt, denn es gibt nur ein Gemüt, nämlich das Gemüt, das Gott ist. Der Mensch ist der individuelle Ausdruck dieses einen Gemüts, er ist kein separates Gemüt mit einem aus eigenem Antrieb handelnden Körper.
In der ununterbrochenen Beziehung zwischen dem Vater-Mutter Gott und Seinem geistigen Kind hat sich nie etwas Böses zugetragen. Und selbstverständlich kann es keine Erinnerung geben an etwas, was nie geschehen ist. Das Böse hat also keine wirkliche Geschichte im Gemüt oder in der Idee des Gemüts.
Als ich diese geistigen Tatsachen besser verstand, verschwanden die bitteren Erinnerungen, und an ihre Stelle trat ein Gefühl von Frieden und Harmonie. Danach wollten sich die falschen Erinnerungen noch einige Male wieder aufdrängen, aber jedes Mal wurde ich gestärkt durch den inspirierten Gedanken: „Ich werde mich nicht zu dir legen.“ Und schließlich hörten sie ganz auf.
Wenn der Mensch kein Sünder ist, wer ist es dann? Mary Baker Eddy beantwortet diese Frage in ihrem autobiographischen Werk Rückblick und Einblick. Sie schreibt: „Die Sünde führt schließlich zum Sünder, und in diesem Sinne sind sie eins. Du kannst die Sünde nicht vom Sünder trennen noch den Sünder von seiner Sünde. Die Sünde ist der Sünder und umgekehrt, denn solcherart ist die Einheit des Bösen; und Sünder wie Sünde werden miteinander zerstört werden durch die Allerhabenheit des Guten. Dies vernichtet den Menschen jedoch nicht, denn die Austilgung der Sünde und damit des Sünders bringt den wirklichen Menschen ans Licht, ja läßt Gottes, Bild und Gleichnis' in Erscheinung treten.“ Rückbl., S. 64.
Sündige Gedanken sind also nichts anderes als falsche Annahmen über Gott und Seine Idee, den Menschen, die uns herabzuziehen versuchen. Sie möchten uns einreden, daß der Mensch unehrlich, gehässig, selbstsüchtig und unrein sein kann. Sie wollen uns solche Merkmale anhängen und uns beeinflussen. Aber wie Josef können wir uns weigern, „uns zu ihnen zu legen oder bei ihnen zu sein“.
Wir sind verantwortlich für das, was wir als wahr über uns und über andere annehmen. In unserem wahren Selbst gibt es keinen Sünder. Im wahren Wesen unserer Mitmenschen gibt es keine Sünde. Das heißt nicht, daß wir die Sünde, die in Erscheinung tritt, ignorieren. Es bedeutet vielmehr, daß wir uns bemühen, Sünde durch das Verständnis zu heilen, daß sie kein Teil des echten Seins des Menschen ist. Wenn wir dem Menschen die Sünde anhängen, dann „legen wir uns zu ihr“ und erleiden unausweichlich die Folgen.
Christus Jesus lehrte und lebte ganz und gar das wahre Wesen des Menschen als Gottes reines Kind oder Ausdruck. Christus ist die Stimme der Wahrheit, die uns wissen läßt, daß wir Gottes vollkommene Kinder sind. Jesus weilt zwar nicht mehr unter uns, doch Christus ist immer im Bewußtsein gegenwärtig, um uns von verderbten Einflüsterungen jeder Art zu erretten. Der Christus beantwortete meine Gebete und befreite mich von dem Leiden, das vom Glauben an die Wirklichkeit des Bösen herrührte.
Christus, Wahrheit, spricht zu jedem empfänglichen Herzen, das demütig nach geistiger Führung sucht. Das Bewußtsein wird dann erfüllt von der Erkenntnis, daß der Mensch Gottes, der geistige Mensch, der Sie und ich wirklich sind, immer heilig und rein gewesen ist und es immer sein wird.
