Niemand Wird Behaupten, daß uns die Olympischen Spiele unberührt lassen. Sie berühren nicht nur unsere Herzen, sie reißen uns auch — zu Hause oder auf der Tribüne — buchstäblich von den Sitzen. Wir schreien und klatschen begeistert mit, und manchmal fallen wir sogar dem Nächstbesten um den Hals. Das habe ich gerade kürzlich während der Winterolympiade in Lillehammer in Norwegen erlebt. Bei den Winterspielen von 1992 in Frankreich waren viele Menschen gerührt von der innigen Freundschaft zwischen einem marokkanischen und einem norwegischen Skilangläufer. Ihre Freundschaft wuchs im Verlauf der Spiele vor den Augen der Zuschauer, und für viele symbolisierte sie den Geist der Olympischen Spiele. Dieser Ausdruck von Brüderlichkeit und Eintracht zwischen den Völkern war die größte Leistung dieser beiden Sportler — größer als ein Sieg oder ihr athletisches Können, so wichtig das auch gewesen sein mag. Trotz ihrer Verschiedenheit teilten diese beiden Männer eine Zuneigung und einen gegenseitigen Respekt, der alle inspirierte, die sie beobachteten.
Es ist sicher das höchste Ziel der Olympischen Spiele, die Mauern aus Vorurteilen, Furcht und Unverständnis niederzureißen, die zu Uneinigkeit und Streit zwischen den Völkern führen, und so Brüderlichkeit und Frieden in der ganzen Welt zu fördern. Offensichtlich wird es auch so verstanden. Mir jedenfalls kommen bei den Siegerehrungen nach den Wettkämpfen immer Freudentränen, ganz gleich, wessen Nationalhymne gespielt wird. (Und da bin ich sicher nicht die einzige.)
Bedauerlicherweise reicht dieses edle Motiv, das hinter den Olympischen Spielen steht, nicht aus, um tatsächlich überall Frieden und Brüderlichkeit herbeizuführen. Wenn wir zum Beispiel an die blutigen Kämpfe und die Zerstörung in Sarajevo denken, angerichtet von denen, die sich vorher als Brüder und Mitbürger angesehen hatten, zerreißt es uns das Herz bei dem Gedanken daran, was für eine Freude während der Olympischen Winterspiele von 1984 dort herrschte.
Offensichtlich reichen die besten Absichten, gute Zusammenarbeit und erfolgreiche Veranstaltungen allein nicht aus, den Haß und die Selbstsucht konventioneller, materialistischer Daseinsauffassungen zu heilen. Mehr ist gefordert — etwas Mächtigeres und Dauerhafteres, als allein mit menschlichen Bemühungen zu erreichen ist. Dieses „Etwas“ ist die Macht des Geistes, Gottes, der göttlichen Liebe.
Immer wieder versichert uns die Bibel der Lieber und heilenden Macht Gottes. Das Studium der Christlichen WissenschaftChristian Science (kr’istjen s’aiens) zeigt uns, wie geistiges Heilen vor sich geht und wie wir selbst Heilung bringen können — nicht nur bei eigenen Problemen, sondern auch bei Problemen, mit denen unsere Freunde, unsere Gemeinde und die Welt als Ganzes konfrontiert werden.
Ich bin kein Teilnehmer an Olympischen Spielen, aber ich laufe gerne, und beim Laufen in der Nachbarschaft habe ich einiges über die Macht des Geistes und der Liebe gelernt. Einmal erlitt ich eine schmerzhafte Verletzung am Bein, die meine Bewegungsfreiheit einschränkte. Nicht lange danach hielt ich es eines Tages für richtig, trotz der Verletzung ein bißchen zu laufen — nicht aus Eigensinn, sondern aus der festen Überzeugung heraus, daß mein Leben, meine Aktivitäten und mein Wohlbefinden von Geist regiert werden und nicht von Materie. Durch das Studium und die Anwendung der Christlichen Wissenschaft hatte ich viel über geistige Macht und göttliches Heilen gelernt, und es erschien mir nicht richtig, mich von dem Augenschein einer materiellen Behinderung beherrschen zu lassen. Ich wußte, daß mein wahres Sein völlig geistig war, da der Mensch in Wirklichkeit das Kind Gottes, des Geistes, ist. In Wahrheit war ich kein körperlicher Sterblicher, sondern die Offenbarwerdung des alltätigen göttlichen Lebens.
Ich lief und betete dabei. Plötzlich trat ein Mann hinter einem Baum am Straßenrand hervor. Ich erkannte, daß er nicht ganz beisammen war. Doch als ich an ihm vorbeilief, fühlte ich mich gestützt von den geistigen Wahrheiten, die ich mir in meinen Gebeten klargemacht hatte. Anstatt mich vor ihm zu fürchten, hatte ich Mitgefühl mit ihm. Ich erkannte, daß er in Wirklichkeit die reine, unschuldige Idee Gottes war, die von ihrem himmlischen Vater-Mutter Gott geliebt und regiert wurde. Und deshalb wußte ich, daß er die Aufmerksamkeit bekommen würde, die er brauchte — um seinetwillen und um der Umgebung willen. Als ich um die nächste Ecke bog, kam ein Polizeiauto auf mich zu. Ich hielt das Auto an, erklärte dem Polizisten die Situation und ging meiner Wege, dankbar, daß in diesem Fall sowohl dem Bedürfnis des Mannes nach Hilfe als auch dem der Stadt nach Sicherheit Sorge getragen wurde.
Ich lief und betete weiter und schloß dabei auch eine der derzeitigen Krisen in der Welt mit in mein Gebet ein. Mir wurde ganz klar, daß der Mensch als Gottes geistiges Kind frei ist — frei von den Fesseln, in denen Furcht, Krankheit, Verbrechen und Unterdrückung ihn gefangenhalten. Ich wußte, daß diese Wahrheit für jeden galt, also auch für meine Mitmenschen auf der anderen Seite des Erdballs, die gegen politische Unterdrückung und Ungerechtigkeit kämpften.
Auf einmal bemerkte ich, daß ich mit normalen, weit ausholenden Schritten lief. Ich war geheilt — vollständig frei von Schmerzen und jeglicher Behinderung. Mir war klar, daß diese Heilung in direkter Beziehung stand zu meinem Gebet für meine Umgebung und meine Mitmenschen auf der ganzen Welt. Diese Erfahrung zeigte mir, welche Möglichkeiten der Sport bietet. Nicht nur kann er der Verherrlichung Gottes dienen dadurch, daß wir Eigenschaften wie Stärke, Kraft und Freude ausdrücken, sondern er gibt uns auch Gelegenheit, mehr von Gottes Liebe und heilender Macht zu demonstrieren.
Der Apostel Paulus ermutigte die Menschen, diesen tieferen Sinn und Zweck des Lebens in Betracht zu ziehen. Er predigte unter anderem in Griechenland, wo die ersten Olympischen Spiele und der erste Marathonlauf stattfanden. Es ist somit nicht verwunderlich, daß er in seinen Predigten und Briefen das Bild vom Laufen gebrauchte. An einer Stelle gibt uns die Bibel den Rat: „Laßt uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns ständig umstrickt, und laßt uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens.“ Hebr 12:1, 2. An einer anderen Stellen spricht Paulus mit folgenden Worten über den Lohn des „geistigen Laufens“: „Wißt ihr nicht, daß die, die in der Kampfbahn laufen, die laufen alle, aber einer empfängt den Siegespreis? Lauft so, daß ihr ihn erlangt. Jeder aber, der kämpft, enthält sich aller Dinge; jene nun, damit sie einen vergänglichen Kranz empfangen, wir aber einen unvergänglichen.“ 1. Kor 9:24, 25.
Für Paulus war das Laufen ein Bild für eine christliche Lebensweise. Er wußte, daß große Hingabe, Kraft und Ausdauer vonnöten waren, um ein wahrer Jünger Christi Jesu zu sein. Wir können es als einen geistigen Marathon ansehen, den wir erst beenden, wenn wir alle Weltlichkeit zugunsten der Christlichkeit aufgeben und die Wahrheit unseres geistigen Selbst als Gottes Gleichnis vollständig beweisen.
Ob wir uns nun für sportlich halten oder nicht — wir alle können, ja müssen diese Arbeit auf uns nehmen, müssen alle Sünde aufgeben und mehr von unserem wahren Wesen als Bild Gottes, der göttlichen Liebe, ausdrücken. Wir brauchen dieselben Eigenschaften wie der Olympiateilnehmer und der Marathonläufer — Ausdauer, Selbstaufopferung, Geduld und das Streben nach Vortrefflichkeit. An dieser Arbeit können wir uns alle aktiv beteiligen, denn schließlich liegt es in unserem Wesen, das alltätige Leben widerzuspiegeln.
Mary Baker Eddy, deren Entdeckung der Christlichen Wissenschaft zum Teil aus ihrem eigenen hingebungsvollen christlichen Leben erwuchs, weist auf die Notwendigkeit dieser geistigen Tätigkeit hin. Als Erklärung für die Ermahnung des Paulus, wir sollen die Sünde ablegen und „laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist“, schreibt sie in Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift: „. .. d. h., laßt uns das materielle Selbst und den materiellen Sinn ablegen und das göttliche Prinzip und die Wissenschaft allen Heilens suchen.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 20. Geistiges Laufen bringt uns zwar keine olympischen Medaillen ein, aber es befähigt uns, uns und andere zu heilen und in immer höherem Maße zum Frieden und zur Brüderlichkeit unter den Menschen beizutragen.
Ein Bild vom Bostoner Marathon im April 1992 kann uns alle dazu inspirieren, unsere Augen auf dieses höhere Ziel gerichtet zu halten. Ibrahim Hussein aus Kenia, der Sieger des Rennens, wartete mehrere Stunden an der Ziellinie auf Johnny Kelley aus Boston, der zum 61. Mal am Bostoner Marathon teilnahm. Sicherlich war die brüderliche Umarmung der beiden Männer an diesem Tag ebenso bedeutsam wie ihre wichtigen sportlichen Leistungen.
Vielleicht kommen wir dem Endziel unseres geistigen Laufens nur allmählich näher, aber hier ist die gute Nachricht: Den „Siegespreis“ von Gottes Liebe, Güte und heilender Macht können wir bei jedem Schritt erfahren.
