Viele Jahre Lang habe ich inmitten des Terrors in Nordirland gelebt, in einer kleinen Straße zwischen den beiden verfeindeten Ortsteilen unserer zerrissenen Stadt. Und zu all dem Terror, der sich hier abspielte, erlebte ich noch Brutalität im eigenen Heim — ich war das, was man eine mißhandelte Frau nennt.
Als aufrichtige Christliche Wissenschafterin hatte ich über diese schlimmen Dinge jahrelang gebetet, und es gab in meiner eigenen Situation auch Fortschritte, doch ich schien mich nie völlig darüber erheben zu können. Ich betete weiter, daß mir Gott zeigen möge, was in meinen Gedanken berichtigt werden mußte. Mein einziges Ziel, mein einziger Wunsch bei alledem war, herauszufinden, wie Gott wirklich ist.
Ich wurde Ausüberin der Christlichen WissenschaftChristian Science (kr´istjen s´aiens) (das ist jemand, der anderen Menschen durch Gebet hilft), aber ich war mir nicht bewußt, daß mein Denken immer verbitterter, härter und — ja, es muß gesagt werden — unversöhnlicher wurde.
Die Unfähigkeit zu vergeben ist eines der größten Probleme in der heutigen Welt, denn es gibt wahrscheinlich wenige Menschen, die sich nicht wegen irgend etwas verletzt fühlen, das man ihnen in der Vergangenheit angetan hat. Und so ist dieses Problem zu einem „großen roten Drachen” geworden — zu einer weltweiten Annahme, daß es für gewisse Dinge oder einige Menschen einfach keine Verzeihung geben kann.
Doch eines Abends lernte ich eine große Lektion. Im Maze Prison, einem Gefängnis gleich außerhalb von Belfast, gab es damals einen Hungerstreik und die „schmutzigen” Proteste. IRA-Terroristen fanden die Zustände im Gefängnis unerträglich, und sie demolierten ihre Zellen, weigerten sich zu essen und beschmierten die Wände. Dies machte Schlagzeilen in aller Welt, und wir sahen es im Fernsehen und lasen tagaus tagein darüber in den Zeitungen. Wir hörten davon nicht nur im Radio, sondern es war auch das allgemeine Gesprächsthema auf der Straße, im Büro oder im Laden.
Zwei der Hungerstreikenden waren gestorben, und eines Abends, als ich spät zu Bett ging, hörte ich im Radio die Meldung, daß ein dritter nur noch ein paar Tage zu leben habe. Ich weiß noch, wie der Ärger in mir hochkam und ich dachte: „Na und? Soll er doch sterben. Dann ist einer weniger da, über den wir uns Sorgen machen müssen; denn wenn der hier am Leben und in Haft bleibt, kommt er eines Tages aus dem Gefängnis mit noch mehr Verbitterung und Haß als zuvor, und dann wird er eine noch größere Gefahr für alle sein.” O ja, ich rechtfertigte meinen Zorn vor mir selbst, indem ich mich an all die Grausamkeiten erinnerte, die diese Terroristen begangen hatten, und ich war sicher, daß jedermann in unserer Stadt so dachte wie ich.
Doch wenn wir in Gottes Dienst stehen, läßt Er uns nichts Falsches durchgehen. Der Mann starb nicht, und der Hungerstreik wurde allmählich beendet. Es gab weiterhin Tragödien — doch dann kam Monate später ein Sonntagmorgen, an dem eine lokale Radiostation eine religiöse Sendung brachte. Einige Männer wurden interviewt, die im Gefängnis das Christentum gefunden hatten. Es waren ehemalige Terroristen aus beiden Teilen der Stadt, und sie erzählten, sie hätten eine Gruppe gegründet, die sich „Soldaten des Kreuzes” nannte. Sie wollten für das Schlimme sühnen, das sie getan hatten, und arbeiteten nun zusammen an gemeinnützigen Projekten für die Stadt.
Ich kannte zwei dieser Gefangenen persönlich und war ganz Ohr — aber auf das, was dann geschah, war ich nicht vorbereitet. Man bat einen jungen Mann, seine Geschichte zu erzählen — und das war eben der Mann, der damals im Sterben gelegen hatte.
Er sagte, es sei der 52. Fasttag gewesen, und er hatte schon sein Augenlicht verloren, als ihm die Gefängnisverwaltung mitteilte, er habe nur noch wenige Tage zu leben. Man brachte seine Mutter zu ihm, und ein Priester kam, um die Sterbesakramente der römisch–katholischen Kirche zu spenden. Während der Priester betete, daß Gott dem jungen Mann vergeben möge, hörte der Gefangene seine Mutter weinen. Doch plötzlich sagte sie: „Ich werde nicht dulden, daß du zu all deinen anderen Sünden noch so etwas Furchtbares hinzufügst. Ich weiß, du hast viele schreckliche Taten begangen, aber ich weiß auch, daß irgendwo etwas Gutes in dir drinstecken muß. Ich werde jetzt sofort zum Leiter des Gefängnisses gehen und ihm sagen, sie sollen dich gewaltsam dazu bringen, den Hungerstreik abzubrechen. Und ich schere mich keinen Deut darum, was die IRA mir dafür antun wird. Ich bin eine alte Frau und habe mein Leben gelebt, aber in deinem muß es noch etwas geben, für das es sich zu leben lohnt.”
Als er hörte, was seine Mutter sagte, war ihm klar, daß sie sich selbst und die ganze Familie in große Gefahr brachte, und er sagte: „Nein, Mutter, laß das sein, ich tue es selbst. Ruf die Wärter.”
Sie brachten ihn in ein Krankenhaus, wo er sich langsam erholte. Er konnte wieder sehen und nahm zu. Dann brachte man ihn in seine Gefängniszelle zurück, die inzwischen desinfiziert, frisch gestrichen und neu möbliert worden war. Er berichtete über seine erste Nacht in der Zelle. Er hatte gerade gebadet, trug einen neuen Schlafanzug und fühlte sich rundherum so neu und sauber, daß er plötzlich unendlich dankbar dafür war, am Leben zu sein. Er fiel in seiner kleinen Zelle auf die Knie und bat Gott, ihm die Untaten zu vergeben, die er begangen hatte, und ihm zu helfen, etwas aus seinem Leben zu machen und auch anderen beistehen zu können.
Er sah in seinem Spind nach, wo noch eine Bibel war, und öffnete sie bei Matthäus, Kapitel 5, Vers 44, wo Christus Jesus lehrt: „Liebt eure Feinde... Segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, und bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen.” Einschließlich Fußnote. Dann fragte er sich: „Habe ich das getan?”, und er gestand sich ein, daß er es nicht getan hatte. In seinem Gefängnisflügel waren nur Republikaner inhaftiert, in dem anderen nur Loyalisten. Er erzählte, daß er sich vorher jeden Morgen, wenn die Zellentüren aufgeschlossen wurden, ein Gewehr gewünscht habe, mit dem er die Loyalisten erledigen könnte. Als er aber am folgenden Morgen diese Gefangenen sah, merkte er, daß er Liebe zu ihnen verspürte, und er sagte sich: „Na klar! Das sind doch meine Brüder, meine Landsleute, und es gibt viel mehr, was uns verbindet, als die dummen Sachen, die uns trennen. Wir haben vor allem das gemeinsam, daß wir Gottes Kinder sind.”
So ging er an jenem Tag entschlossen zu ihnen und redete mit ihnen. Und er wurde ein „Soldat des Kreuzes” und Mitglied der Gruppe, die so viel Gutes tat.
Als er seine Geschichte im Radio erzählte, weinte er. Manchmal schluchzte er so sehr, daß ich ihn kaum verstehen konnte, und ich gebe zu, daß ich mit ihm weinte. Ich bat Gott, mir meine Hartherzigkeit, meine Unbarmherzigkeit und Unversöhnlichkeit zu verzeihen. Und plötzlich wurde mir klar: Während ich und Tausende mit mir ihn zum Tode verdammten, stand dort in der dunkelsten der Nächte eine Frau ganz allein und betete für ihren Sohn.
Ich erkannte die Macht und die Reinheit der Mutterliebe — eine Liebe, die Gutes in ihrem Sohn sah, wo alle anderen nicht das geringste davon entdecken konnten. Eine Liebe, die bereit war, ihr Leben für das seine zu opfern. Ich weiß noch, wie ich betete: „Lieber Gott, lehre mich zu lieben, denn meine Liebe ist viel zu eng. Meine Liebe sagt zu dem anderen: ‚Ich werde dich lieben, wenn du gut bist oder wenn du dich dem anpaßt, was ich für gut halte. Dann werde ich mit Freuden bereit sein, dich zu lieben.’ ” Ich sah ein, daß das nicht Liebe ist; es ist Eigenliebe und damit eine Form von Haß gegen den anderen Menschen.
Nun, ich mußte nicht lange auf eine Antwort warten, denn am Ende der Sendung wurde ein protestantischer Pfarrer gebeten, das Schlußwort zu sprechen. Und er las aus Hosea, Kapitel 3. Hosea war ein großer Prophet, von Gott ausgewählt, seinen Landsleuten zu predigen und zu prophezeien. Er war hochgeachtet, aber er war mit einer Prostituierten verheiratet. Er wies seine Frau aus dem Haus, doch Gott lehrte ihn, daß Er ein Gott der Barmherzigkeit und Liebe ist und daß das, was in Hoseas Ehe geschah, auch im ganzen Land vor sich ging. So wie seine Frau ihn betrogen und verlassen und seinen Namen in den Schmutz gezogen hatte, so lebten alle Menschen im Lande in Sünde. Sie hatten Gott abgewiesen und waren Seiner Stimme ungehorsam — und doch wollte Gott sie wissen lassen, daß Er ein barmherziger und vergebender Gott ist. Als Zeichen dafür befahl Gott dem Hosea, hinzugehen und seine Frau zurückzukaufen. Er kaufte sie wieder für fünfzehn Silberstücke und fünfzehn Scheffel Gerste und versprach ihr: „Ich will mich mit dir verloben für alle Ewigkeit.” Hos 2:21.
Dies ist ein Beispiel, wie Gottes Liebe und Seine Verzeihung den Weg zur Umwandlung öffnen. Und tat nicht die Liebe der Mutter für den jungen Terroristen das gleiche? Zuerst kam Vergebung, dann die Erlösung. Und ich hatte immer gedacht, es müsse anders herum sein! War das eine Lektion für mich! Noch Jahre danach beschäftigte mich dieses Thema, und ich betete darüber, denn ich wollte herausfinden, wie diese Liebe beschaffen ist. Und eines Tages erkannte ich, daß wir eine solche Liebesfähigkeit nur entwickeln können, wenn unser Herz schon mit bedingungsloser Vergebung gefüllt ist. Nur so obenhin zu sagen: „Ich kann vergeben” und doch unsere Wunden zu hätscheln und darüber zu reden, was uns damals angetan wurde, das ist alles andere als Vergebung.
All das hat mir sehr geholfen, auch den Mann wirklich zu lieben, der mich und meine Kinder mißhandelt hatte. Ich begann eine Liebe für ihn zu empfinden, die nicht von dieser Welt war. Er war nicht bereit, sich zu ändern, aber an mir tat die Widerspiegelung der Liebe Gottes Wunder. Und obwohl wir schließlich geschieden wurden, konnte ich doch mit ihm in Verbindung bleiben und bis zu seinem Tode für ihn sorgen.
Diese Lektion in Liebe war der größte Segen meines Lebens, denn sie half mir, jedem zu vergeben, der mir meiner Meinung nach irgendwann ein Unrecht angetan hatte. Sie half mir auch, mir selbst zu vergeben.
Unser geliebter Meister Christus Jesus wies uns durch sein Beispiel den Weg. Er vergab die Sünden unendlich vieler Menschen, sogar die seiner engsten Jünger, die ihn verrieten, verleugneten und verließen, als er sie am nötigsten brauchte.
Es ist sehr interessant, daß in Matthäus 5 alle Verse nach dem oben zitierten darüber sprechen, warum wir unsere Feinde lieben sollen. Jesus sagte, tut es, „damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben?” Und das Kapitel endet mit dem Vers: „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.” Mt 5:45, 46, 48.
Vollkommen sein kann nichts anderes bedeuten, als daß keine Hartherzigkeit, keine Verdammung und kein Gefühl des Verletztseins mehr in uns bleibt. Das einzige Denken, das wir ändern müssen, ist unser eigenes. Wir sind nicht verantwortlich für die Gedanken anderer Leute. Aber wenn wir ihnen vergeben und jede Vorstellung von Sünde oder einem Sünder von unserem Bild von ihnen trennen, erkennen wir die echte, die geistige Identität dieser Menschen, und das trägt zur Heilung bei.
In einem Wörterbuch wird das englische Wort für „verdammen” — condemn — zum Teil definiert als „für unheilbar erklären”. Wenn wir annehmen, daß jemand nicht zu heilen ist, glauben wir, daß ein Zustand oder ein Mensch für Gottes Hilfe unerreichbar sein kann. Aber sagt uns nicht die Bibel: „Bei Gott sind alle Dinge möglich” Mt 19:26.?
Manchmal sehen wir kein augenblickliches Zeichen eines Wandels und meinen dann, die Umwandlung sei unmöglich. Aber wir vergessen, daß Leben ewig ist und daß die göttliche Liebe unendliche Geduld hat — und unendliche Umwandlungskraft besitzt.
Wir müssen durch die Sünde hindurchsehen und wissen, daß die geistige Wahrheit, die für uns wahr ist, ebenso für jeden anderen wahr ist. Und das heißt wirklich: für jeden! Ohne Ausnahme. Allerdings bedeutet eine solche Vergebung nicht, daß die Sünde ungestraft davonkommt. Es gibt keine Ungerechtigkeit, denn „was der Mensch sät, das wird er ernten” Gal 6:7.. Aber wenn wir aufrichtig vergeben, helfen wir, die Freiheitstür für andere zu öffnen, die in sich an jener Erneuerung arbeiten, die die Voraussetzung für die Vergebung der Sünde ist.
Wenn wir uns verletzt fühlen, denken wir vielleicht, daß jemand unser Feind sei. Aber Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Begründerin der Christlichen Wissenschaft, gibt uns den Rat: „Nenne nur das deinen Feind, was das Christusbild, das du widerspiegeln solltest, besudelt, entstellt und entthront. Was immer das menschliche Leben läutert, heiligt und weiht, ist nicht ein Feind, wie sehr wir auch darunter leiden mögen.” Vermischte Schriften, S. 8.
Der IRA–Mann, den ich für einen Feind hielt, lehrte mich die Lektion meines Lebens, und das gleiche war mit meinem früheren Ehemann der Fall. Ich wurde mehr und mehr zu Gott hingelenkt, wenn ich Antworten suchte, bis ich lernte, mich allein auf Ihn zu verlassen. Dies brachte mir eine Freiheit, die ich nie zuvor gekannt hatte — das absolute Gefühl der Vollkommenheit und Ganzheit. Und ich erlebte solch lebendige Beweise von Gottes liebevoller Fürsorge, daß ich nie mehr an Ihm zweifeln konnte. Ich lernte, daß Vergeben niemals menschliche Schwäche ist. Es erfordert mehr Mut, zu vergeben und zu lieben, als zu hassen und zu streiten.
Nur die göttliche Liebe wird diese Welt heilen. Alle Vergeltung, all die Bomben und Raketen und die Arsenale voller Munition rund um den Erdball können niemals heilen. Aber auch alle menschlichen Argumente und das menschliche Urteilen von einer sterblichen, materiellen Grundlage aus können nichts bewirken. Ich las einmal, daß Vergebung wie Blumenduft ist: Selbst wenn jemand die Blume zertritt, so geht er doch davon und trägt den Duft dieser Blume an seinen Stiefeln. Wie sehr Sie auch verletzt und mißhandelt wurden — Ihre Vergebung wird ganz bestimmt heilend wirken.
