„Die Bibel ist lebendig, sie spricht zu mir; sie hat Füße, sie läuft mir nach; sie hat Hände, sie nimmt Besitz von mir.“ So schrieb Martin Luther, der große Reformator, der darum kämpfte, den Deutschen die Bibel zu geben.
Als Luther die Bibel für seine Landsleute übersetzte, öffnete er dem Denken im westlichen Europa Türen, die niemals wieder geschlossen werden konnten. Seine Bibel, die Lutherbibel, wurde zum Maßstab für alle späteren Übersetzungen der Heiligen Schrift aus dem Lateinischen, Griechischen oder Hebräischen in lebendige Volkssprachen — ins Französische, Spanische, Portugiesische, Holländische, Schwedische, Dänische, Isländische und Englische.
Luthers kühner Bruch mit der römisch-katholischen Kirche veränderte ein für allemal das Gesicht des westlichen Christentums. Und diese Veränderungen schufen eine Atmosphäre, in der Männer, Frauen und Kinder endlich die Bibel ohne Furcht vor Repressalien besitzen und lesen konnten.
LUTHERS JUGEND
Luther wurde 1483 in dem kleinen Ort Eisleben am unteren Harz geboren. Kurz nach seiner Geburt zog die Familie in das nahegelegene Mansfeld, wo Hans Luther, sein Vater, als Bergmann in den Kupfergruben arbeitete. Die Familie war arm, aber Luthers Vater arbeitete schwer, um seinen acht Kindern eine gute Ausbildung geben zu können. Besonders ehrgeizige Pläne hegte er für den kleinen Martin, den er eines Tages als wohlhabenden Rechtsgelehrten sehen wollte.
Zu jener Zeit besuchten wenige Kinder aus den unteren Bevölkerungsschichten eine Schule, doch Hans Luther ermöglichte seinem Sohn eine ausgezeichnete Schulbildung. Als der junge Luther sieben Jahre alt war, kam er in die Mansfelder Schule. Anschließend besuchte er die Lateinschule in Magdeburg und dann in Eisenach, wo er die Sprache der Kirche lernte und sich auf das Jurastudium vorbereitete.
Schließlich immatrikulierte er sich an der Universität Erfurt. Hier studierte er zunächst Sprachen, Logik und Philosophie. In der dortigen Universitätsbibliothek sah er zum ersten Mal eine vollständige Bibel — natürlich in Latein. Luther war fasziniert davon und verbrachte Stunden um Stunden damit, sie zu lesen. Im Jahre 1505 wurde er Magister Artium und schrieb sich, wie sein Vater es wünschte, für das Jurastudium an der Erfurter Universität ein.
Doch im Juli dieses Jahres trat ein Ereignis ein, das sein Leben von Grund auf veränderte. Es heißt, Luther habe sich nach einem Besuch bei seiner Familie auf dem Rückweg nach Erfurt befunden, als er von einem Blitz fast erschlagen wurde. Von Todesangst gepackt, gelobte er ins Kloster zu gehen, wenn Gott ihn retten würde. Trotz der Proteste seines Vaters verließ er schon vierzehn Tage später die Universität und trat in den Orden der Augustiner-Eremiten in Erfurt ein. Da war er 22 Jahre alt.
LUTHER, DER MÖNCH
Luther gab sich dem harten, streng geordneten Mönchsleben mit ganzer Seele hin. Er trug die Tonsur und die schwarze Kutte und Kapuze der Brüder, lebte in einer ungeheizten Zelle, die kaum zwei mal drei Meter maß, und verzehrte schweigend seine Mahlzeiten. Nach weniger als zwei Jahren legte er seine ewigen Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams ab und wurde im April 1507 zum Priester geweiht.
Er studierte so eifrig und gewissenhaft, daß Johann von Staupitz, der Generalvikar seines Ordens, ihn schon bald für ein Lehramt an der neugegründeten Universität von Wittenberg vorsah, wo Staupitz Professor der Theologie war. In Wittenberg wurde Luther 1512 Doktor der Theologie, und er wurde als zukünftiger Nachfolger von Staupitz ausersehen.
1516 veröffentlichte der große holländische Gelehrte Erasmus von Rotterdam eine Ausgabe des griechischen Neuen Testaments, die viel Aufsehen erregte. Luther lernte in aller Eile Griechisch, um so dem ursprünglichen Sinn der Evangelien näherkommen zu können.
In dieser Zeit erschütterten ihn schwere Gewissensnöte und Glaubenszweifel. Er schrieb: „Jeden Tag fühle ich mich schlechter und erbärmlicher.“ Er quälte sich mit dem Gedanken, er sei ein Sünder, dem keine Vergebung zuteil werde und der den Weg zu Gott nicht finden könne. Außerdem war er mehr und mehr von der Kirche enttäuscht. Ihm wurde zunehmend klarer, wie weit sie sich von ihren Wurzeln entfernt hatte.
Doch durch seine Liebe zur Heiligen Schrift fand Luther Erlösung von seiner Qual. Eines Tages ließ ihn ein Satz des Apostels Paulus innehalten: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“ (Röm 1:17). Plötzlich verstand er, daß ein Christ durch die Reinheit seines Glaubens vor Gott gerechtfertigt ist.
Von nun an hatte Luther ein völlig neues Verhältnis zur Bibel. Später schrieb er: „Die ganze Heilige Schrift nahm eine neue Bedeutung an, sie wurde mir unaussprechlich süß in einer tieferen Liebe; und so wurde mir dieses Wort des Paulus zu einem Tor zum Himmel.“
LUTHER VERURTEILT DIE KIRCHE
Als Luther erkannt hatte, daß das Heil des Menschen auf der Stärke des eigenen Glaubens beruht, war es ihm klar, daß die „Werke“ und Rituale, die von der Kirche des Mittelalters gefordert wurden, nicht nötig waren, um Frieden mit Gott zu finden. Besonders empörte ihn der zu dieser Zeit weit verbreitete Handel mit „Ablaß“, mit der Vergebung von Sünden.
Er stellte eine Liste von 95 Thesen dafür zusammen, warum der Ablaßhandel falsch sei. Im Oktober 1517 nagelte er, wie es damals üblich war, diese Thesen an die Tür der Schloßkirche von Wittenberg und forderte so jedermann heraus, mit ihm über dieses Thema zu diskutieren. Innerhalb weniger Tage überschwemmten seine „95 Thesen“ — auf den kurz vorher in Deutschland erfundenen Druckerpressen schnell gedruckt — das ganze Land. Sie fanden ein gewaltiges Echo in der Öffentlichkeit, und das Volk nahm leidenschaftlich für Luther Partei.
Der Theologe Professor Johann Eck forderte Luther 1519 zu einer Disputation auf, die zehn Tage dauerte. Im Laufe der scharfen Debatte kam es dazu, daß Luther die Unfehlbarkeit des Papstes und der Kirchenkonzilien bestritt — und daß er behauptete, die Bibel sei die einzige Autorität, der die Christen sich beugen sollten. Mit dieser Aussage war er in den Augen des Papsttums als Ketzer gebrandmarkt. War nicht Johannes Hus hundert Jahre zuvor auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, als er sich geweigert hatte, die gleichen Behauptungen zu widerrufen?
Das nächste Jahr verbrachte Luther damit, die großen Reformationsschriften zu verfassen, die die Argumente seiner Gegner widerlegen sollten. Eine der Ideen, die er in diesen Schriften aussprach, war „das Priestertum der Gläubigen“, wie er es nannte — daß nämlich alle Christen vor Gott gleich sind. Und daher, so folgerte er, sei eine spezielle Priesterschaft überflüssig.
Je mehr Luther schrieb, desto kühner und direkter wurde seine Sprache. Im Juni 1520 verwarf der Papst alle Schriften Luthers und drohte ihm mit dem Bann.
DER REICHSTAG ZU WORMS
Im Januar 1521 wurde Luther vom Papst exkommuniziert. Im gleichen Monat berief der deutsche Kaiser Karl V. alle Fürsten zum Reichstag nach Worms, wo entschieden werden sollte, was mit Luther zu geschehen hatte. Nach heißen Debatten wurde beschlossen, ihn vor den Reichstag zu laden und ihm Gelegenheit zu geben, seine Behauptungen zu widerrufen. Nach seiner Anhörung bat Luther um einen Tag Bedenkzeit, um seine Antwort formulieren zu können.
Am nächsten Abend wurde er wieder in den überfüllten Saal geführt. Er sagte: „So kann ich und will ich nicht widerrufen, weil weder sicher noch geraten ist, etwas wider das Gewissen zu tun. Gott helfe mir! Amen.“
Wohlmeinende Mitglieder des Reichstages versuchten, ihn zu einem Kompromiß zu bewegen, aber er lehnte ab. Einen Monat später erließ der Kaiser das „Edikt von Worms“, das die Reichsacht über Luther verhängte. Er war nun vogelfrei, niemand durfte ihn aufnehmen und ihm beistehen oder seine Bücher lesen. Aber der Kurfürst von Sachsen, der ihm freundlich gesinnt war, kam ihm zu Hilfe. Er versteckte Luther auf der Wartburg.
Meine Seele ist stille
zu Gott, der mir hilft.
Denn er ist mein Fels,
meine Hilfe, mein Schutz,
daß ich gewiß nicht fallen werde.
Psalm 62:2, 3
