Achtzehnhundertzweiundachtzig. Die dritte Januarwoche brach an — kalt, grau und regnerisch. Im Haushalt der Eddys in Lynn, Massachusetts, hatte man allerdings wenig Zeit, auf das Wetter zu achten. Mary und ihr Mann Asa Gilbert bereiteten sich auf eine längere Reise in die Bundeshauptstadt Washington vor, und es gab viel zu tun. Die Kirche und Mrs. Eddys Schüler brauchten Rat und Ermutigung. Für die Zeit der Abwesenheit Mrs. Eddys, der vor kurzem ordinierten Pastorin, mußte für die sonntäglichen Predigten Vorsorge getroffen werden. Die Schüler würden zusammenarbeiten müssen. Zweien von ihnen riet sie:
Die Kirche soll zusammenarbeiten, nicht jeder für sich allein. Jeder, der kann, soll einen Anteil übernehmen und im Gutestun nicht müde werden. Gott wird Ihnen helfen. ...
Ich würde empfehlen, daß die Sonntagsgottesdienste abwechselnd in unseren Räumen in Boston und in Charles-town abgehalten werden und daß Sie und Mrs. Whiting, Miss Bartlett und Mrs. Poor in alphabetischer Reihenfolge für die Gottesdienste verantwortlich sind. Dokument zur Kirchengeschichte: L02496, Abteilung für Kirchengeschichte Der Mutterkirche.
Darum bitte ich dringend: daß ihr „euch untereinander liebt, wie ich euch liebe". Daß keine bittere Wurzel aufwachse unter euch. Daß weder Stolz noch eitles Fragen danach, wer, der Größte' sei, aufkomme; sondern denkt daran, daß ich mich selbst zum Diener gemacht habe, damit ich andere zu Christus führe. Dokument zur Kirchengeschichte: L07689.
Die Eddys verbrachten zehn Wochen in Washington, voll in Anspruch genommen von einem dynamischen, übervollen Programm. Sie unterrichtete und hielt Vorträge. Er widmete einen Großteil seiner Zeit dem Studium des Urheberrechts. Gegen Mitte März schrieb Mrs. Eddy an einen Schüler in Boston:
Ich habe an zwei Abenden Vorträge in Salons gehalten. Ungefähr fünfzig Leute haben mir zugehört und sich zustimmend geäußert. Redakteure, Offiziere, Lehrer, ein Geistlicher usw.. .. Dies ist die schönste Stadt, die ich je gesehen habe. Dokument zur Kirchengeschichte: L10642.
Zwei Wochen vorher hatte sie geschrieben:
Ich habe hier härter gearbeitet als je zuvor! An vierzehn aufeinanderfolgenden Abenden habe ich jeweils drei Stunden lang Vorträge gehalten — außer dem, was ich sonst noch tue. Ich gehe um 12 Uhr zu Bett, stehe um 6 Uhr auf und arbeite. Dokument zur Kirchengeschichte: L02499.
Zu dem, was sie „sonst noch" tat, gehörte das Heilen. An einem Sonntag gingen Mr. und Mrs. Eddy in die Kirche, die der amerikanische Präsident gewöhnlich besuchte. Sie wurden dem Geistlichen vorgestellt. Der fragte, ob er sie besuchen dürfe, und wurde herzlich eingeladen. Er verbrachte fast einen ganzen Nachmittag bei ihnen und hörte sich Mrs. Eddys Erklärungen zu biblischen Wahrheiten an. Als es Zeit zum Abendessen wurde, luden die Eddys ihn ein, mit ihnen zu essen. Er erklärte, er könne nichts essen, würde sich aber freuen, ihnen Gesellschaft leisten zu dürfen. Die Ärzte hatten bei ihm Magenkrebs diagnostiziert und eine strikte Diät verordnet. Marys Herz war voller Mitgefühl für den Mann. 1901 schilderte Mrs. Eddy die Heilung des Geistlichen:
Ich sagte ihm kurz, daß dies eine ausgezeichnete Gelegenheit sei, unsere Unterhaltung vom Nachmittag in der Praxis zu testen. Er erwiderte, er könne wohl kaum zustimmen, eine Doktrin zu testen, wenn er sich dabei selbst umbringe. Doch ich erklärte die Wahrheit und versicherte ihm, er könne getrost essen. Er ging mit uns zu Tisch, vergaß bald sich und seine falschen Ängste und nahm sich herzhafte Portionen von Salat, Fleisch und Gebäck. Nach dem Abendessen sagte er: „Was habe ich nur getan! Ob ich das überlebe?" Wir versicherten ihm, es bestehe keinerlei Gefahr. Er spürte keine üblen Nachwirkungen und hat nie wieder Schwierigkeiten gehabt. Irving C. Tomlinsons Notizen, Abt. für Kirchengeschichte.
Am Sonntag nach dem 4. April, an dem die Eddys nach Neuengland zurückgekehrt waren, nahm Mrs. Eddy wieder ihren Platz auf der Kanzel der Kirchenräume in der Hawthorne Hall ein. Später erzählte sie einem Schüler:
Predigte gestern vor einer großen Zuhörerschaft. .. über die Schriftstelle: „Was ich tue, das verstehst du jetzt nicht; du wirst es aber hernach erfahren." Sprach hauptsächlich über Jesu Heilen, das jetzt noch nicht verstanden wurde, aber verstanden werden wird — und daß dann sein Christus-Charakter begriffen wird. Ich wünschte, Sie könnten die wilde Begeisterung sehen, die hier über diese gesegnete Wahrheit herrscht.
Der Empfang war wirklich eine großartige Angelegenheit. Es gab eine Blumenkrone und auf dem Wort Wahrheit ein großes Kreuz mit dem Wort Liebe; ein weiteres Blumenkissen auf grünen Blättern zeigte den Gruß „Willkommen". Das war über der Tür angebracht. Es waren so viele Menschen da, daß man eine Stunde brauchte, um alle Hände zu schütteln. Dies war mein Einzug in Jerusalem. Wird nun das Kreuz folgen? Dokument zur Kirchengeschichte: L12626.
Ende April mieteten die Eddys ein Sandsteinhaus in der Columbus Avenue in Boston. Es sollte nicht nur ihnen ein Heim bieten, sondern auch die Lehranstalt für Metaphysik in Massachusetts aufnehmen. Mrs. Eddy und einige ihrer Schüler hatten Ende 1880 die Lehranstalt gegründet und im Januar 1881 die staatliche Anerkennung dafür erhalten. Aber auf diesen strahlenden Frühling fiel schwere Düsternis, denn Gilbert starb am 3. Juni. Das war besonders hart für Mary. Um ihren Seelenfrieden wiederzufinden, ging sie nach Vermont, wo sie im Haus der Familie eines Schülers wohnte. Niemand begleitete sie außer diesem Schüler und einer Schülerin. Sie fühlte, daß sie dringend Heilung brauchte. . ., und die Heilung kam. Gegen Ende Juli hielt sie eine Ansprache in der Bartoner Methodistenkirche über das Thema, das ihr immer am Herzen lag und auf der Zunge brannte: das christliche Heilen. Der Geistliche besuchte sie am nächsten Tag, und sie verbrachten den Vormittag im Gespräch über den Vortrag. Als Mrs. Eddy nach Hause kam, schrieb sie in ihre Bibel: „6. Aug. 1882. .. schlug Jesaja 54 auf." Mary Baker Eddys Bibelsammlung, AA2, Abt. für Kirchengeschichte. Einer der vielen tröstlichen Verse, die sie dort las, lautete: „Du wirst. .. der Schmach deiner Witwenschaft nicht mehr gedenken." Ende Oktober konnte sie zu einem Schüler sagen: „Das Schiff der Wissenschaft ist wieder in Fahrt, erhebt sich über die Wogen und bietet den Wasserfluten des Irrtums Trotz, denn Gott steht am Steuer." Dokument zur Kirchengeschichte: L04885.
Die nächsten Jahre standen im Zeichen von Veröffentlichung und Ausbreitung. In einem Brief bekannte Mrs. Eddy: „Ich habe jetzt sehr viele Schriften daliegen, etwas, wovon ich den Schülern nichts gesagt habe." Dokument zur Kirchengeschichte: L04093. Als im April 1883 die erste Zeitschrift der Christlichen Wissenschafter, das Journal of Christian Science, erschien, war sie dessen Herausgeber und steuerte einen Großteil des Inhalts bei. Die Arbeit war wohl anregend, aber auch anstrengend. Mrs. Eddy hatte wenig freie Zeit, arbeitete sieben Tage die Woche und ruhte einzig in der Liebe zu ihrer Arbeit und zu Gott. Zu ihrer großen Freude sandten ihr die führenden religiösen Zeitungen Bostons aktuelle Ausgaben ihrer Blätter im Austausch für ihr Journal. Über ein Jahr lang hatte sie außerdem an der Revision ihres Lehrbuchs Wissenschaft und Gesundheit gearbeitet. Dieser 6. Ausgabe, die im September 1883 herauskam, fügte sie ein Kapitel mit der Überschrift „Schlüssel zur Heiligen Schrift" bei. Ursprünglich hatte sie geplant, diesen „Schlüssel" schon in die 2. Ausgabe aufzunehmen, die 1878 erschienen war, aber ernsthafte Probleme mit dem Drucker und andere Umstände machten das unmöglich. Der „Schlüssel" bestand aus metaphysischen Auslegungen biblischer Namen und Begriffe, wie wir sie heute im „Glossarium" finden. Dreiundzwanzig dieser Begriffe und Auslegungen erschienen zuerst in den mehr als 600 Seiten umfassenden Notizen zur Genesis, die Mrs. Eddy zwischen 1866 und 1869 niederschrieb. Siehe Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift 109:11-16. Spuren dieser Notizen finden wir heute noch überall im Lehrbuch, wie die folgenden beiden Beispiele zeigen:
Der Himmel war Glück und keine Örtlichkeit, sondern war die Atmosphäre eines Prinzips, in dem alles Harmonie war. Dokument zur Kirchengeschichte: A9000, 41:2-3. Vergl. mit Wissenschaft und Gesundheit 291:15-18.
Und:
Diese Wahrheit steht an der Schwelle deines Denkens, ein Gast, der so neu und fremd ist, daß wir verstehen, daß er laut und lange klopfen muß, bevor du ihm öffnest — doch wenn er einmal die eiserne Pforte der Annahmen durchschritten hat, die vor ihm verschlossen ist, wo Wahrheit das Mahl mit dem Verständnis hält, wirst du danach immer über ihn sagen: Wir haben ohne Wissen Engel beherbergt. Dokument zur Kirchengeschichte: A9000, 593:9-14. Vergl. mit Wissenschaft und Gesundheit vii: 16–18 Unabhängig und 224:22-27.
Die Christliche Wissenschaft stand wahrhaftig an der Schwelle des öffentlichen Denkens und klopfte vernehmlich an. Zeitungen und Kirchen stellten immer mehr Fragen und kritisierten diese neue Glaubensgemeinschaft. Das veranlaßte Mrs. Eddy schließlich dazu, eineinhalb Jahre nach der Herausgabe der 6. Ausgabe des Lehrbuchs zwei Schriften zu veröffentlichen: „Historical Sketch of Metaphysical Healing" (Historische Skizze über das metaphysische Heilen) und „Defense of Christian Science" (Verteidigung der Christlichen Wissenschaft). Nach gründlichen Revisionen und Erweiterungen wurde „Historical Sketch of Metaphysical Healing" 1891 als das Buch Rückblick und Einblick herausgegeben. Ebenso wurde später „Defense of Christian Science" als Nein und Ja veröffentlicht. Trotz der dauernden Anforderungen, die das Schreiben, Veröffentlichen und Predigen an sie stellte, fand Mrs. Eddy noch Zeit, Klassen zu unterrichten und ihren Schülern mit ihrem Rat zur Seite zu stehen. 1884 reiste sie nach Chicago. Nach ihrer Rückkehr berichtete sie einem Schüler in einem Brief:
Ich ging im Mai nach Chicago. Die Leute dort hatten mich dringend gebeten zu kommen, und auch ich fühlte, daß es notwendig war. Das große Werk war begonnen worden, aber meine Schüler brauchten mich, um ihm in dieser Stadt rastlosen Unternehmertums das rechte Fundament und Impulse zu geben. So ging ich hin, und in den drei Wochen dort unterrichtete ich eine Klasse von 25 Schülern, hielt in der Musikhalle Vorträge vor vollem Haus, bekam 20 Abonnenten für mein Journal, verkaufte mehr als 30 Exemplare von Wissenschaft und Gesundheit usw. ...
In Chicago wurde eine Dame. .. an Geist und Körper geheilt durch ein Gespräch mit mir, das nur ein paar Minuten dauerte. Sie änderte ihre ganze Lebensführung, und der Brief, den sie mir nach meiner Heimkehr schrieb, deutet das an. Dokument zur Kirchengeschichte: L02069. Sie sprach über den Bibeltext: „Wer sagen die Leute, daß ich sei?"
Da sie nicht mehr öffentlich praktizierte, war die Frage aufgetaucht: „Hat Mrs. Eddy ihre Kraft zu heilen verloren?" Im Journal vom Juni dieses Jahres antwortete sie darauf. Ihre Erwiderung beginnt so: „Hat die Sonne zu scheinen vergessen, und haben die Planeten vergessen, um sie zu kreisen?" Siehe Mary Baker Eddy, Vermischte Schriften, S. 54. Ihre Schüler zweifelten nicht an ihrer Fähigkeit zu heilen. Eines Abends ging Clara Coate zu Mrs. Eddy und bat sie, zu ihr zu kommen und ihrem vierjährigen Sohn zu helfen, der krank war. Sie hatte selbst versucht, ihn zu heilen, aber hatte keinen Erfolg gehabt. Mrs. Eddy kam und betete einige Minuten an seinem Bett. Plötzlich drehte sich der kleine Junge herum und begann, mit aller Kraft mit den Füßen gegen die Wand neben dem Bett zu schlagen. Mrs. Eddy saß still da und sagte kein Wort. Er hörte erst auf, als er müde wurde. Dann drehte er sich wieder um und schlief ein: Er war geheilt. Später fragte Mrs. Coate bei einer Schülerversammlung ihre Lehrerin, wie sie ihren Sohn behandelt habe. Mrs. Eddy antwortete:
Der einzige Gedanke, den ich hatte, war: „Warren Coate, deine Mutter regiert hier mit der Wahrheit."
Mrs. Coate, Sie legen diesem Kind keine moralischen Zügel an, wenn es gesund ist, und so können Sie es nicht heilen, wenn es krank ist. Sie haben alles getan, was man tun kann — nur haben Sie es versäumt, sich mit der moralischen Frage auseinanderzusetzen. Dieser Punkt muß in jedem Fall geklärt werden, ob es sich nun um einen Erwachsenen oder ein Kleinkind handelt. Sie haben ihm nie beigebracht zu gehorchen, und wenn Sie ihm etwas befehlen, dann bestehen Sie nicht darauf, daß er es auch tut. Delia S. Manleys Erinnerungen, Abt. für Kirchengeschichte.
Die Schülerin, die dies berichtete, bemerkte dazu: „Diese Lektion wurde uns auf der Schülerversammlung sehr nachdrücklich beigebracht, denn wir wären nie auf den Gedanken gekommen, daß die Frage der Moral bei dem Fall eines kleinen Kindes behandelt werden sollte. Ebd.
Mrs. Eddy sah unter die Oberfläche der Dinge, und das erwartete sie auch von ihren Schülern. Sie hat sofort jede falsche Methode sowohl liebevoll gerügt als auch den richtigen Weg zum Heilen erklärt. In ihrer Antwort an einen Schüler, der sagte, er sei bei einem Fall noch nicht erfolgreich, spielte Mrs. Eddy auf Jesu Weisung an Simon an: „Gehen Sie weiter und tiefer hinaus. Verankern Sie sich in Gott." Protokoll der Vereinigung Christlicher Wissenschafter, Abt. für Kirchengeschichte. In einer Notiz an einen anderen Schüler schrieb sie: „Sind Sie bereit zu helfen? Sie sagen, Sie sind es — aber warum helfen Sie mir nicht, wenn Sie willens sind und dies handhaben können? Was Sie sagen, ist alles nicht konsequent, solange Sie nicht tun, was Sie sagen. Vor drei Wochen habe ich in einer Minute einen Fall von Gehirnerweichung geheilt — aber ich habe nicht gesagt, ich werde es tun und dann den Leidenden im Stich gelassen." Dokument zur Kirchengeschichte: V00915. „Gehirnerweichung" ist die landläufige Bezeichnung für eine Abbaukrankheit, die manchmal mit Altersschwachsinn oder Lähmung in Verbindung gebracht wird. Und an einen weiteren Schüler schrieb sie: „Laßt unser Leben den Unterschied zwischen einem falschen und einem echten Gemüts-Heiler zeigen." Dokument zur Kirchengeschichte: L02633. Weil Mrs. Eddy lebte, was sie lehrte, und weil sie „so gesinnt" war, „wie Jesus Christus auch war" Phil 2:5 (Fußnote)., konnte sie augenblicklich einen Geistlichen in Washington, eine Frau in Chicago und einen kleinen Jungen in Boston heilen. Sie ging ständig weiter und tiefer hinaus und verankerte sich in Gott.
