Bisher hatte ich oft gehört, dass kleine Babys unbeholfen, unfertig und noch unterentwickelt seien. (An die eigenen Kinder in dem Alter erinnerte ich mich nicht mehr so richtig.) Als mein Enkel drei Monate alt war, konnte ich bei einem Besuch beobachten, wie er liebevoll versorgt wurde und alles sehr aufmerksam anschaute. Je länger ich mich mit ihm befasste, desto bewusster wurde mir, wie vollkommen er er war. Seine Bewegungen, seine Mimik, sein Beobachten lehrten mich eine neue Lektion, nämlich dass alle Ausdrucksformen von wahrem Leben unveränderlich sind und immer bestehen.
Ich sah auch, wie schnell das menschliche Denken falsche Denkmuster übernimmt, festhält und für wahr nimmt. Das geistige Denken, das von der vollkommenen Idee des Menschen als Widerspiegelung Gottes ausgeht, wie wir es im ersten Buch Mose lesen können, schließt aber immer alle Eigenschaften Gottes ein. Vollkommenheit ist das Wesen des wahren Menschen. Sie entwickelt sich nicht und nimmt dann irgendwann wieder ab, sondern ist immer gegenwärtig. Diese Vollkommenheit teilt sich mit, sie muss nur erkannt werden. Doch können uns die fünf materiellen Sinne dieses Bild nicht vermitteln.
Viele Phänomene in der Natur belegen das trügerische Wesen der menschlichen Wahrnehmung. Und wie oft haben wir uns vielleicht schon in der Einschätzung eines Menschen geirrt. Die Christliche Wissenschaft lehrt uns, hinter die Kulissen einer falschen Vorspiegelung zu schauen und das wirkliche Sein des Menschen wahrzunehmen.
Das Leben der Menschen ist Keine Abhandlung zwischen Geburt und Tod, sondern Ausdruck des vollkommenen göttlichen Lebens, ohne Anfang und Ende. Leben ist Gott und wir können Leben immer erleben, ganz gleich, in welcher Situation wir uns befinden. Es gibt keine Einschränkung dafür, wie ich unlängst erfuhr.
Das Leben ist keine Abhandlung zwischen Geburt und Tod, sondern Ausdruck des vollkommenen göttlichen Lebens, ohne Anfang und Ende.
Manchmal fahre ich mit dem Fahrrad eine Runde, um mich an der Natur zu erfreuen und etwas zu erfrischen. Dieses Mal näherte ich mich einem kleinen Friedhof. Sehr viele Leute, schwarz gekleidet, gingen in diese Richtung. Ich spürte förmlich, wie viele dabei an den Tod dachten und empfand diese Atmosphäre regelrecht als Suggestion. Eine innere Beklemmung kam in mir hoch. Mir huschte zwar der Ausspruch von Christus Jesus durch den Sinn: „ Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Joh 11 Aber dann war ich wieder gebannt von dieser bedrückenden Situation.
Langsam bahnte ich mir auf dem Rennrad den Weg vorbei an den Leuten, um niemanden zu behindern. Doch war ich wohl zu Ich fiel um. Weil meine Schuhe an den Pedalen angeschnallt waren, stürzte ich auf den Rücken und das Rad über mich. So schnell ich konnte, versuchte ich aufzustehen. Ich hatte Schmerzen im Rücken und schob das Rad noch an den Wegrand. Dann verlor ich das Bewusstsein.
Nach einiger Zeit wachte ich auf und wusste nicht, was geschehen war. Ich lag hinter einem geparkten Auto, so dass mich niemand sehen konnte. Über mir erblickte ich den blauen Himmel. Ein himmlischer Gedanke war jetzt nötig. Mir kam die Definition im Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy, ins Bewusstsein: „Himmel. Harmonie; die Herrschaft des Geistes; Regierung durch das göttliche Prinzip; Geistigkeit; Glückseligkeit; die Atmosphäre der Seele.“Wissenschaft und Gesundheit, S. 587.
Mein nächster Gedanke war: „Bevor du dich bewegst, ordne erst einmal deine Gedanken über Leben und Tod." Nun fiel mir jener Ausspruch von Christus Jesus wieder ein, den ich vorher hatte, als er mit seiner Auferstehung die Ewigkeit des Lebens bewiesen hatte.
Ich wollte „die Herrschaft des Geistes" erleben.
Im Lehrbuch steht ein hilfreicher Satz, den ich nun zu verstehen begann: „Du bist Herr der Situation, wenn du verstehst, daß das sterbliche Dasein ein Zustand der Selbsttäuschung ist und nicht die Wahrheit des Seins." Ebd., S. 403.
Ich wollte „die Herrschaft des Geistes" erleben. So begann ich meine Lage zu analysieren:
Erstens kann der geistige Mensch in Wahrheit nicht an den Tod glauben, denn der wahre Mensch existiert ohne Anfang und Ende. Zweitens bin ich nicht gefallen, sondern in Wahrheit immer aufrecht und vollkommen. Also ist mir nichts zugestoßen, was mich in irgendeiner Weise beeinträchtigen kann. Drittens kann mir keiner meine Freude nehmen, die ich kurz vorher noch hatte.
Es wurde mir deutlich, dass es nicht darum ging, einen menschlich negativen Gedanken durch einen positiven zu ersetzen, sondern einen geistigen Begriff vom vollkommenen Menschen zu erfassen und zu erfahren. Das bedeutet, die Einheit mit Gott zu erleben. Und das — so wusste ich — geschieht durch Gebet.
Immer stärker wird mir seitdem bewusst, warum Mrs. Eddy das Lehrbuch mit dem Kapitel „Gebet" beginnt. Gott spricht immer. Wenn wir die göttliche Gegenwart nicht spüren, heißt das nicht, dass Gott schweigt, sondern dass wir nicht richtig hören. Dieses Lauschen auf Gott erfüllt uns mit der Gewissheit, dass Gott ohne Unterbrechung, ohne jede Einschränkung für uns sorgt, so wie mein Enkel sich voller Vertrauen auf seine Eltern verlässt. Das ist für mich der Inbegriff von Gebet.
In jener Situation am Friedhof empfand ich dieses Vertrauen in Gottes erhaltende Gegenwart. Ich stand auf. Es war niemand mehr auf der Ich schwang mich auf mein Rad und setzte meine Fahrt mit viel Freude fort. Alles war ein Spuk und erschien mir völlig unwirklich. Ich hatte tatsächlich erfahren, dass Disharmonie eine Unwirklichkeit der materiellen Sinne ist.
Für mich hat Leben nichts mit dem Wunsch nach ständigen Erlebnissen, oder Vergnügungen zu tun. Es ist ein stilleres Wahrnehmen der unendlichen Schönheit in jedem Detail des Daseins. Bei mit Menschen oder mit der Natur müssen wir uns nicht mehr an den Ungereimtheiten vergänglicher Eindrücke stoßen, sondern können die Widerspiegelung göttlicher Ausdrucksformen spüren. Dann prägt nicht das materielle Bild das Erlebnis, sondern wir kommen zur Wahrnehmung der göttlichen Allgegenwart. Daraus erwächst eine heilende Atmosphäre, die alles Sein umfasst. Christus Jesus hat seine Kraft aus dem Einssein mit Gott geschöpft, der für ihn Vater und Mutter war. Er ist unser Beispielgeber und jeder kann sein Denken und Handeln durch Gebet mit ihm in Einklang bringen. Mit dieser Einstellung nähern wir uns Gott und unsere Erfahrungen werden reiner und heiliger.
Der Weg, der uns zu Erlösung von allen Fesseln und Hindernissen führt, ist der Glaube an die Gegenwart der immer und beglückenden göttlichen Liebe, die unser Leben regiert. Dieses Erleben richtet uns auf, macht uns im tiefsten Inneren glücklich und geht weit über alle äußeren Empfindungen hinaus. Das mag uns wie eine neue Geburt erscheinen und lässt uns den Ausspruch von Jesus besser verstehen: „Wundere dich nicht, daß ich dir gesagt habe: Ihr müßt von neuem geboren werden." Joh 3:7. So können wir einen Schimmer von der Allgegenwart und Allmacht des Lebens erleben.
