„Die weisen Bauleute werden auf dem Stein bauen, der der Eckstein ist; und so bringt die Christliche Wissenschaft, diese geringe Menge Sauerteig, unter drei Scheffel Mehl — Ethik, Medizin und Religion — vermengt, die Welt schnell zur Gärung und erleuchtet sie mit der Herrlichkeit der unverhüllten Wahrheit” (Mary Baker Eddy, Botschaft an Die Mutterkirche für 1902, S. 2). Die vielfältigen Kontakte jedes einzelnen Christlichen Wissenschafters innerhalb der Gesellschaft tragen dazu bei, das weltliche Denken zu durchsäuern. Das Komitee für Veröffentlichungen konnte an einer Konferenz über Ethik in der Medizin teilnehmen, bei der alle „drei Scheffel Mehl” in ihrem Zusammenhang betrachtet wurden, und trug dazu bei, auf diesem Gebiet Denkanstöße zu geben.
Das Thema der einwöchigen Konferenz, die 1993 unter der Schirmherrschaft des Instituts für Religion am Texas Medical Center in Houston, USA, stattfand, lautete: „Traditionen neu entdecken: Religöse Aspekte in der Ethik der Medizin”. Auf dem Treffen hatten Krankenhausgeistliche, Krankenschwestern, Professoren und Medizinstudenten Gelegenheit, über eine neue Rolle der Religion bei der Heilung und Behandlung von Patienten zu diskutieren.
Mehrere Sprecher betonten, dass eine einfühlsame Pflege auch auf die Überzeugungen des Patienten Rücksicht nehmen müsse. Eine Berücksichtigung weltanschaulicher Überzeugungen sei besonders wichtig, wenn ethische Entscheidungen im Hinblick auf die medizinische Versorgung getroffen werden müssen. Es bestand allgemeiner Konsens darüber, dass die Selbstbestimmung des Patienten respektiert werden muss, wobei es wichtig ist, dass das Gespräch zwischen Patient und Arzt nicht abreißt.
Im Folgenden geben wir einen Überblick über die Themen, die auf diesem Treffen angesprochen wurden, sowie über die Diskussionen, die sich daran anschlossen.
Die Veranstalter der Konferenz setzen sich, was die Medizin betrifft, entschieden für einen mehr holistischen oder ganzheitlichen Ansatz ein und dafür, der Religion eine größere Rolle einzuräumen als nur das Spenden der Sterbesakramente. Man ist der Ansicht, dass sie Teil der pflegerischen Grundversorgung in jeder medizinischen Einrichtung sein sollte.
Doch die Neigung, die Religion als irrelevant für die Medizin zu betrachten, ist sehr ausgeprägt. Selbst die Verfechter von Veränderungen finden es schwierig, das, was sie zu lehren begonnen haben, auch in die Tat umzusetzen. Zum Beispiel erzählte der Gastgeber der Konferenz, Allen Verhey, Direktor und Mitglied des Instituts für Religion am Texas Medical Center, folgende Begebenheit aus einem Seminar, das er selbst abhielt.
Das Thema an dem betreffenden Tag war Abtreibung und genetische Untersuchungen vor der Geburt. Dr. Verhey erwartete eine lebhafte Diskussion. Er konfrontierte die Studenten mit einer hypothetischen Situation. „Eine Freundin ist mit einem Mann ausgegangen und von ihm vergewaltigt worden und jetzt ist sie im dritten Monat schwanger. Sie hat niemanden, an den sie sich wenden kann, und bittet Sie um Hilfe. Was würden Sie tun?” lautete seine Frage.
Er wandte sich an ein Mädchen in dar ersten Reihe. „Was würden Sie tun?”
„Beten”, lautete ihre einfache Antwort.
„Gut, aber danach?”
Die Hände gingen hoch und die Bemerkung der Studentin war vergessen. Im Nachhinein, so sagte Verhey, habe er das Gefühl, dieser Studentin und auch den anderen Studenten an jenem Tag nicht gerecht geworden zu sein. Heute wünschte er sich, er hätte sie ernst genommen und gefragt: „Was ist Gebet?” oder „Wie würden Sie beten?” oder „Wofür würden Sie beten?” Auch dann hätte die von ihm gewünschte Diskussion stattgefunden und vielleicht wäre sie sogar noch fruchtbarer gewesen. Doch im entscheidenden Augenblick wies er Gebet als zu abstrakt zurück, als zu irrelevant, um bei der Lösung eines schwierigen Problems von praktischem Nutzen zu sein.
Baruch Brody, einer der Sprecher auf der Konferenz, berichtete von einem Assistenzarzt, der im Umgang mit einem Patienten große Schwierigkeiten hatte. Dr. Brody, Direktor des Zentrums für Ethik, Medizin und öffentliche Angelegenheiten am Baylor College für Medizin in Houston, fragte ihn: „Welcher Religion gehört der Patient an?”
Der Assistenzarzt sah ihn ungläubig an und sagte: „Das weiß ich nicht.”
„Das sollten Sie aber herausfinden, bevor Sie in diesem Fall irgend etwas unternehmen.”
„Was ändert das?” fragte der Assistenzarzt.
„Das ändert alles”, antwortete Brody. „Gehen Sie jetzt, verlieren Sie keine Zeit und ich wette, Sie werden die Auswirkungen sofort sehen.”
„In diesem Land treffen viele Kulturen aufeinander”, sagt Dr. Randall Bloomfield, Vorsitzender des Beratungskomitees für Minderheitenärzte des Amerikanischen Ärzteverbandes, „und bevor Sie nicht etwas über die Religion Ihrer Patienten wissen, über ihr Leben zu Hause und ihre familiäre Situation, hapert es an der Kommunikation mit ihnen. ... Wir müssen herausfinden, wer sie sind und was sie glauben, um ihnen helfen zu können.”
Ärzte und medizinische Hochschulen akzeptieren diesen Denkansatz langsam und das zeigt sich zunehmend im Wandel der Einstellungen und in den sich verändernden Curricula an den Hochschulen.
Medizinische Hochschulen setzen diese neue Auffassung um
Nachdem der Amerikanische Ärzteverband 1984 einen Bericht über den Fortschritt in der Ausbildung der praktischen Ärzte (General Physician Education Progress, GPEP) veröffentlicht hatte, begannen viele medizinische Hochschulen damit, ihre Curricula zu überarbeiten und mehr auf Fallstudien beruhendes, nicht durch Vorlesungen zu vermittelndes Material darin aufzunehmen. Die medizinische Fakultät der Harvard-Universität war eine der ersten Eliteuniversitäten, die dies taten. Fast zeitgleich mit der GPEP-Untersuchung entwickelte sie das Programm „Neue Wege in der Allgemeinen Medizinischen Ausbildung”.
Die Studenten werden zu der Einsicht geführt, dass die medizinische Praxis und das Gesundheitssystem nur ein Teil der menschlichen Lebensumstände sind — nur ein Aspekt im Leben ihrer Patienten.
An der Harvard-Universität erwartet man von den Medizinstudenten, dass sie circa zehn Stunden in der Woche an Gesprächsgruppen teilnehmen, in denen einzelne Fälle genauer untersucht werden und praktische Krankenhausarbeit geleistet wird. Dies ist eine deutliche Abkehr von der traditionellen Lehrmethode in der Medizin, die ausschließlich aus Vorlesungen, Bücherstudium und Laborarbeit bestand. Man hofft, dass die Diskussionen und praktischen Erfahrungen die Studenten dazu ermutigen, die Patienten ganzheitlicher zu sehen und sie nicht nur als Patienten zu respektieren, sondern auch als Persönlichkeiten mit verschiedenen kulturellen und geistigen Anschauungen.
Mitarbeiter des Komitees für Veröffentlichungen nehmen schon seit einigen Jahren an Diskussionsgruppen an der Harvard-Universität teil. Die Diskussionsteilnehmer stellen sehr nachdenkliche Fragen über die Christliche Wissenschaft und das in einer Atmosphäre gegenseitigen Respekts und der Bereitschaft einander zuzuhören.
An der medizinischen Fakultät der Northwestern University in Chicago ist jetzt ein neues Studienprogramm mit dem Titel „Patient, Arzt und die Gesellschaft” Teil des Lehrplans geworden. Kathryn Hunter, Expertin für englische Literatur, gehört zu den Initiatoren dieses Programms, das, wie sie sagt, die Studenten in die Lage versetzen soll, ihren Patienten „zuzuhören” und zu verstehen, was sie hören. „Patienten sind in der [herkömmlichen] medizinischen Ausbildung nicht vertreten”, sagt Dr. Hunter. Um dem abzuhelfen, belegen die Studenten Kurse in Literatur, Anthropologie und Geschichte. Sie lesen das Buch Hiob, den Tod des Iwan Iljitsch von Leo Tolstoj und John Stones Gedichte über das Arztleben. Sie werden zu der Einsicht geführt, dass die medizinische Praxis und das Gesundheitssystem nur ein Teil der menschlichen Lebensumstände sind — nur ein Aspekt im Leben ihrer Patienten.
Die Gärung, die vor sich geht, wenn Religion, Ethik und Medizin aufeinandertreffen, wird sichtbar.
Die Studenten, die an diesem Programm an der Northwestern University teilnehmen, lernen auch alternative Heilmethoden und Kulturen kennen. Der Medizinprofessor Tod Chambers lässt seine Studenten eine „Heilungskarte” von Chicago erstellen, die zeigt, wo in den verschiedenen Stadtteilen man die alternativen Behandlungsmethoden finden kann. Er schickt die Medizinstudenten der ersten Semester in die Stadt, um diejenigen aufzusuchen, die diese alternativen Methoden praktizieren. Auf den Karten der Studenten erscheinen Homöopathen, Akupunkteure, Kräuterheilkundige, christliche Glaubensheiler charismatischer Religionen und Massagetherapeuten. „Es geht nicht darum, dass die Studenten lernen, diese Methoden zu praktizieren, sondern dass sie begreifen, dass es andere Weltanschauungen gibt und dass ihre Patienten vielleicht tatsächlich diese Methoden anwenden.”
Dieses Programm hat manche Studenten etwas verwirrt. Dr. Chambers sagt, die westliche Schulmedizin gehe davon aus, dass die Antwort auf Gesundheitsprobleme nicht von der Kultur oder dem Glauben eines Menschen abhängig ist. Wenn man Ethik, Religion, Kultur oder den persönlichen Lebensstil eines Menschen bei der Entscheidung über die Form der Behandlung mit in Betracht zieht, steht der Student am Ende vielleicht ohne jede Antwort da oder er hat mehrere, die alle gleich richtig sind. Die Studenten fühlen sich nicht wohl dabei, in erster Linie deshalb, weil sie das Gefühl haben, dass, wenn sie erst einmal Ärzte sind, die Verantwortung für die Gesundheit ihrer Patienten letztlich allein auf ihren Schultern ruht.
Es besteht Gesprächs- und Verständnisbedarf
Früher hatten Ärzte und Patienten Hemmungen, über Sex zu sprechen. Heute ist die Religion das Tabu. „Warum, weiß ich nicht”, sagt Chambers, „außer vielleicht, dass die Studenten nicht unterscheiden können zwischen dem Verstehen der religiösen Ansichten eines Menschen und dem Streiten darüber.”
Chambers Seminar setzt sich regelmäßig mit diesem äußerst problematischen Thema auseinander. So fragt er seine Studenten zum Beispiel, wenn es um eine bestimmte religiöse Überzeugung geht: „Würde sie die Behandlung eines Patienten beeinträchtigen? Wenn ja, ...ist es dann besser, dem Patienten seinen Glauben zu lassen, auch wenn er dann stirbt, oder ihn (mit Hilfe der Medizin) zu heilen und ihn so zu zwingen, diesen Glauben aufzugeben?” Die Studenten wissen noch nicht, wie sie handeln sollten, sagt Chambers, aber wenigstens lernen sie, einige Fragen zu durchdenken, auf die sie später in ihrem Beruf praktische Antworten finden müssen.
Die Gärung, die vor sich geht, wenn Religion, Ethik und Medizin aufeinandertreffen, wird exemplarisch sichtbar an einer Gruppe von Assistenzärzten, die an einem Seminar zum Thema Ethik in der Medizin am Baylor College of Medicine in Houston teilnahm. Dozent Dr. Brody erzählte den Medizinalassistenten von einem kleinen Jungen, der im Krankenhaus bei ihm in Behandlung war. Der Junge sagte, dass Gott ihm erschienen sei und ihm gesagt habe, wenn er nach Hause gehen könne, würde er gesund werden. Der Junge glaubte dieser Vision und bat darum, das tun zu dürfen. Obwohl die Eltern die Vision ihres Sohnes nicht gesehen hatten, unterstützten sie das Kind und baten das Krankenhaus, ihn zu entlassen. Nach langem Nachdenken willigte Brody ein.
Einer der Assistenzärzte meinte, als er die Geschichte gehört hatte: „Das tun nur dumme Leute.”
Daraufhin fragte Brody die Gruppe: „Wer von Ihnen hat in der letzten Woche gebetet?”
Niemand meldete sich.
„Wer innerhalb des letzten Monats?”
Auch jetzt meldete sich niemand.
Es war offensichtlich, dass niemand in dem Raum über eigene Erfahrungen mit Gebet verfügte.
Obwohl viele dieser Ausbildungsprogramme mit einem „holistischen” Ansatz erst in den späten achtziger Jahren eingeführt wurden, gehen schon jetzt Medizinalassistenten mit dieser Ausbildung in die medizinische Praxis. Weil dieser Denkansatz so ganz anders ist, fragen einige der Assistenzärzte, warum die Ärzteschaft allgemein sich nicht daran orientiert. „Das ist ein Generationsunterschied, aber es ist eine gute Frage”, sagt Brody.
Trotz all der Fortschritte in Technologie und Medizin, die sie in den Griff bekommen müssen, sehen viele Studenten die größte Herausforderung darin, mit dem ganzen Menschen umzugehen. Auf die Frage „Worin besteht die Kunst der Medizin und der pflege?” antwortete ein Student in einem Kurs über Ethik in der Medizin am Baylor College: „Es gibt keine Kunst der Medizin. Nur die Kunst, ein Mensch zu sein.”