„DER HERR, UNSER GOTT, IST DER HERR ALLEIN, UND DU SOLLST DEN HERRN, DEINEN GOTT, LIEBEN VON GANZEM HERZEN, VON GANZEM SEELE, VON GANZEM GEMÜT UND VON ALLEN DEINEN KRÄFTEN.“ ...„DU SOLLST DEINEN NÄCHSTEN LIEBEN WIE DICH SELBST.“ ES IST KEIN ANDERES GEBOT GRÖSSER ALS DIESE.
MARKUS 12:29-31
Als ich Challangro zum ersten Mal sah, war er nicht jemand, den ich näher kennen lernen wollte. Ich war nach Chicago gezogen, in einen Stadtteil, der als eine der Gegenden mit der größten kulturellen Vielfalt in den Vereinigten Staaten gilt. Es gab dort viele alte Backsteingebäude, große Häuser, die um die Jahrhundertwende gebaut worden waren, und hier und da Hochhäuser mit Sozialwohnungen. Mehrere Gangs, darunter die Latin Kings, trieben sich in dieser Gegend herum.
Freunde und Familienmitglieder machten sich manchmal Sorgen um meine Sicherheit, und es gab auch wirklich Zeiten, wo ich Angst hatte. Doch ich mochte die Vielfalt der Nachbarschaft und den Mumm und das Stehvermögen der Menschen dort. Es hatte alles eine dynamische Schärfe, die mich veranlasste inbrünstig um Frieden und Heilung zu beten. Meine Erfahrungen dort zwangen mich in meiner Beziehung zu Gott zu wachsen — und Challangro, ein Mann, der sich oft mit den Latin Kings herumtrieb, spielte eine wichtige Rolle dabei.
Ich wusste anfangs nicht, in welcher Straße er wohnte. Es war sein Gesicht, das ich nicht vergessen konnte. Wann immer wir uns über den Weg liefen, machte er abfällige sexuelle Bemerkungen. Das geschah regelmäßig und er ging dabei sehr plump vor. Ich war empört und wütend. Ich fühlte mich verbal vergewaltigt. Ich hasste ihn. Ja ich habe ihn bewusst mit Verachtung gestraft, da ich dachte, dass ihn mein Zorn irgendwie demütigen oder zum Schweigen bringen würde. Es hat ihn nur noch mehr angestachelt.
Ich merkte schließlich, dass der Hass in mir selber etwas sehr Häßliches bewirkte. Er verhärtete mein Herz und brachte Verzweiflung, Bitterkeit und Zynismus zum Vorschein. Auch nahm er mir nicht die Furcht. In einem Aufsatz mit dem Titel „Liebet eure Feinde“ schreibt Mary Baker Eddy: „Hasset niemanden, denn Hass ist wie eine Pestbeule, die ihr Gift verbreitet und schließlich tötet. Wenn wir ihm nachgeben, überwältigt er uns und verursacht seinem Träger Leiden über Leiden in dieser Zeit und über das Grab hinaus.“ Vermischte Schriften, S. 12. Ich wusste, was sie damit meinte.
Ich begann über Jesu Lehren nachzudenken — das Gebot, unsere Feinde zu lieben, zu segnen, die uns verfluchen, und denen Gutes zu tun, die uns beleidigen. Siehe Mt 5:43–48. Aber warum sollte ich jemanden lieben, der so unfreundlich gewesen war? Wie konnte ich diesen Mann lieben? Folgendes wurde mein Gebet: „Zeig mir irgendetwas, was ich lieben kann; zeig es mir.“
Ein Gedanke kam mir klar und deutlich. Er lautete etwa so: „Joni, schau ihn an. Er treibt sich jeden Tag in der Nachbarschaft herum, trinkt sein Bier, verhöhnt und verspottet die Leute. Glaubst du, dass er wirklich ein gutes Gefühl dabei hat? Meinst du nicht, dass er nach einem Lebenszweck sucht?“ Das war mir bis dahin noch gar nicht in den Sinn gekommen.
Ich hasste ihn. Ja ich habe ihn bewusst mit Verachtung gestraft.
Weiter dachte ich: „Egal, wie scheußlich er sich dir gegenüber benimmt, egal, wie ausfallend er wird, hat er wirklich die Fähigkeit, dich unglücklich zu machen? Kann er dich dazu bringen, ihn zu hassen? Kann er von dem, was du im Kern bist, etwas wegnehmen? Kann er dir Angst einjagen?“
Ich musste innehalten und radikal umdenken. Ich hatte geglaubt, dass seine Handlungen mich zwangen so zu reagieren, wie ich es tat — dass ich ein Opfer war — und dass mein Wohlergehen abhing von dem, was er tat. Nein, er hatte nicht die Fähigkeit, meine Reaktionen zu bestimmen — noch konnte er mein Denken und Tun oder mein Bild von mir selbst oder von ihm beeinflussen. Wenn Jesus davon sprach, wie wichtig es ist, unsere Feinde zu lieben, wies er da vielleicht nicht darauf hin, dass egal, wie übel eine Erfahrung gewesen ist, es doch etwas Kostbares dabei zu finden gibt — etwas Heiliges? Mir wurde klar, dass die Forderung zu lieben in dem angeborenen, unwiderstehlichen und unzerstörbaren Guten verwurzelt ist. Mrs. Eddy beginnt „Liebet eure Feinde“ mit den Worten: „Wer ist dein Feind, dass du ihn lieben solltest? Ist er ein Geschöpf oder ein Etwas, das du dir nicht selbst geschaffen hast?
Ich hatte geglaubt, dass seine Handlungen mich zwangen so zu reagieren, wie ich es tat.
Kannst du einen Feind sehen, es sei denn, du formst ihn zuerst in deinem Denken und schaust dann auf den Gegenstand deines eigenen Begriffes? Was ist es, das dich kränkt? Kann denn Hohes oder Tiefes oder irgendeine andere Kreatur dich scheiden von der Liebe, die das allgegenwärtige Gute ist — die unendlich segnet, einen und alle?
Nenne nur das deinen Feind, was das Christusbild, das du widerspiegeln solltest, besudelt, entstellt und entthront.“ Verm., S. 8.
Durch meine Überlegungen änderte sich meine ganze Sicht auf die Situation. Ich hatte bisher nur Challangro als das Problem gesehen, als denjenigen, der mich schlecht behandelte. Doch ich musste zugeben, dass sich auch in meinem Denken viel Mist angesammelt hatte. Wo war meine Christlichkeit — das reine Wesen alles dessen, was gut und heilig ist — und wo sah ich seine Christlichkeit?
Nicht Verdammung war hier nötig, sondern Liebe. Sie würde stark machen, reinwaschen, trösten, wiederherstellen, heilen.
Der Wendepunkt kam eines Tages, als ich gerade an ihm vorbeigehen wollte. Ich hatte immer jeden Blickkontakt mit ihm vermieden, aber heute kam die stille Aufforderung: „Schau ihn an. Sieh ihm in die Augen.“ Ich wollte es nicht, aber ich tat es dann doch. Was ich sah, beeindruckte mich nicht. Ich setzte meinen Weg fort und etwa einen Häuserblock weiter kam ich an einem anderen Mann vorbei, der mich auf ähnliche Weise ansah. Wieder kam der Gedanke, aber diesmal noch stärker: „Schau ihn an. Ignoriere ihn nicht. Sieh in ihn hinein.“
Alle Revolutionen beginnen im Innern. Daher kämpfen wir nicht gegen andere Menschen. Wir müssen achtgeben auf die Gedanken
Dieses Mal steckte ich mein ganzes Herz in diesen Blickkontakt. Ich schaute hinter die mürrische Fassade, und was ich sah, ließ mich abrupt innehalten: Er war wie ein ängstlicher kleiner Junge, der mit aller kraft versuchte, groß und „macho“ zu sein, denn innerlich fühlte er sich nicht so. Es ist nicht so schwer einen ängstlichen kleinen Jungen zu lieben.
In dem Moment verstand ich endlich, was Jesus meinte. Nicht Verdammung war hier nötig, sondern Liebe. Und diese Liebe, die im unendlichen Göttlichen verwurzelt ist, würde stark machen, reinwaschen, trösten, wiederherstellen, heilen.
Ich weiß nicht, wann die höhnischen Bemerkungen aufhörten, aber sie blieben schließlich aus. Und eines schönen Tages kam Challangro direkt auf mich zu und fragte mich, was ich denn da in meiner Tasche hätte. Ich fragte ihn, ob er es wirklich wissen wollte. Er sagte ja. So zog ich denn verschiedene Zeitschriften über das Heilen heraus, in der Art, wie diese es ist. Es war sogar eine in Spanisch darunter. Er sah mich an, schaute dann zum Himmel auf, zeigte mit dem Finger dorthin und sagte: „Sie kennen Ihn.“ Ich sagte: „Ja, und Sie offensichtlich auch.“ Wir gingen mehrere Straßen zusammen weiter und sprachen über Gottes Liebe zu uns allen.
Danach haben wir uns noch oft unterhalten. Er sagte mir seinen richtigen Namen. Er las gern den spanischen Herold und die spanische Übersetzung von Mary Baker Eddys Buch Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, die ich ihm geschenkt hatte. Dann erzählte er mir, dass ein Freund ihm dieses Buch weggenommen hatte und es ihm nicht wiedergeben wollte. Er bat mich um ein neues. Ich sagte ihm, wo er eins bekommen konnte. Seine Umstände haben sich nicht von einem Tag auf den anderen gewandelt, aber er machte Fortschritte.
Ich bin vor ein paar Jahren von Chicago weggezogen und kurz danach traf Challangro eine Freundin von mir. Er fragte sie, wo ich denn abgeblieben sei, und sagte ihr, dass ich ihm doch ein Buch hatte geben sollen! Meine Freundin erzählte mir das, und so bat ich sie, ihm einen Brief von mir und noch ein Exemplar von Wissenschaft und Gesundheit zu bringen. Er dankte mir in einem Brief dafür und schrieb, dass das Buch ihm helfe.
Mrs. Eddy schreibt: „ ‚Liebe deine Feinde‘ ist gleichbedeutend mit ‚du hast keine Feinde‘. Wie kann diese Behauptung auf jene bezogen werden, die dich ohne Ursache gehasst haben? Einfach dadurch, dass jene unglückseligen Menschenkinder tatsächlich deine besten Freunde sind. Von Anfang bis zu Ende tun sie dir weit mehr Gutes, als du mit deiner augenblicklichen Vorstellung vom Guten fassen kannst.“ Ebd., S. 9.
Es gab eine Zeit, wo ich glaubte, dass Challangro ein Feind war. Jetzt weiß ich, dass nicht er der Feind war — dass der Feind all das ist, was versucht uns glauben zu machen, dass wir aus irgendeinem Grund nicht kostbar, wertvoll, brauchbar oder gottähnlich sind.
Alle Revolutionen beginnen im Innern. Daher kämpfen wir in Wirklichkeit nicht gegen andere Menschen: Wir kämpfen gegen Furcht, Hass, Eifersucht, Habgier. Zu verteidigen haben wir dabei unseren Begriff davon, wer wir wirklich sind — nämlich Gottes Kinder und zwar jedermann. Wir müssen achtgeben auf die Gedanken, die wir über andere hegen. Beweggründe und Handlungen, die sich auf diese reine Liebe gründen, haben zwangsläufig Heilung zur Folge. Sie bringen die Menschen zusammen und fördern den Frieden in unseren Herzen und in den Nachbarschaften in aller Welt.
