Während des ganzen Strafprozesses hatte der Angeklagte Blicke um sich geworfen, die getötet hätten, wenn das möglich gewesen wäre. Sie waren wie Warnleuchten seines Hasses, eine Drohung für alle, die es wagen sollten, ihm zu nahe zu kommen. Wenn die Augen die Fenster der Seele sind, dann war die Seele des Angeklagten fest in den Krallen Beelzebuls.
Der Bursche in meinem Gerichtssaal war angeklagt, mit zwei anderen einen jungen Mann wie in einer Exekution erschossen zu haben. Der Angeklagte stand nicht zum ersten Mal vor Gericht; und als die Schöffen ihn schuldig sprachen, schien sein tödlicher Starrblick nur noch durchdringender zu werden.
Während der zwei Wochen war die Familie des Opfers jeden Tag im Gerichtssaal anwesend gewesen. Am Tag der Urteilsverkündung meldeten sich seine Mutter und seine Großmutter zu Wort.
Wenn Angehörige bei der Urteilsverkündung etwas sagen möchten, dann sprechen sie den Angeklagten gewöhnlich nicht direkt an. Sie drücken meistens in äußerst scharfen Worten ihren Abscheu vor dem Verurteilten aus und vor dem, was er getan hat.
Als die Mutter dieses Opfers am Tisch des Staatsanwalts stand, wandte sie sich langsam dem verurteilten Killer zu.
Sie schaute ihm in seine hasserfüllt starrenden Augen und begann leise zu sprechen. Aber hier gab es keinen Urschrei nach Rache oder Vergeltung, sondern ihre Worte waren gereift und geläutert worden in Tagen endlosen Kummers. „Ich habe keine Hassgefühle gegen Sie," sagte sie, „ich könnte Sie nie hassen."
Zum ersten Mal seit Beginn des Prozesses verloren die Augen des Verurteilten ihre Laserschärfe und schienen sich einer lebendigen Kraft zu beugen, die nur eine Mutter ausstrahlen kann — einer stärkenden, bedingungslosen Liebe.
Nach der schmerzerfüllten Mutter schaute auch die Großmutter direkt in die Augen des Verurteilten und sprach unerschrocken über ihren Verlust.
Sie sagte ihm, es tue ihr leid, dass er das Verbrechen begangen hatte, denn „Sie sind so ein gutaussehender Mann". Ihre Botschaft war einfach und klar: „Aber Sie haben es begangen und müssen nun — so leid es mir tut — Ihre Zeit dafür absitzen. Sie haben die goldene Regel gebrochen, Gott von ganzem Herzen zu lieben, mit Ihrer ganzen Seele und Ihrem ganzen Gemüt. Sie haben das Gesetz gebrochen, Ihren Nächsten wie sich selbst zu lieben. Ich bin Ihr Nächster."
„Aber trotzdem“, fuhr sie fort, „gebe ich Ihnen meine Adresse. Wenn Sie mir schreiben wollen, dann werde ich Ihnen antworten, denn ich habe zwei Wochen hier gesessen — und vorher schon habe ich sechzehn Monate lang versucht Sie zu hassen. Aber wissen Sie was? Ich konnte Sie nicht hassen. Es tut mir leid um Sie, weil Sie das Falsche getan haben.“
Als die Großmutter geendet hatte, schaute ich zu dem Verurteilten hin. Sein Kopf war gesenkt. Keine Angeberei, kein Großtun mehr, kein boshaftes Starren. Die zerstörerischen und bösen Gewalten in ihm brachen hilflos zusammen vor diesem wunderbaren Beweis von Menschlichkeit.
Und im Licht dessen, was eben geschehen war, schien mein Urteilsspruch — siebenunddreißigeinhalb Jahre seines Lebens im Gefängnis zu verbringen — nicht mehr wichtig zu sein.
Aus der New York Times
vom 7. März 1997
Copyright © 1997
The New York Times Co.
Nachdruck mit Genehmigung
