Brasilien, Rio de Janeiro, Innenstadt, Bahnhof. „Central Station", Hauptbahnhof, das ist der Titel des Films. Eine Frau übt dort, mitten im Bahnhofsgebäude und im sehr geschäftigen Treiben, ihren Beruf als Schreiberin aus. Sie verfasst Briefe im Auftrag von Passanten, die selbst nicht schreiben können. So wird sie zwangsläufig Teilnehmerin an sehr privaten Situationen: Es werden Liebesbriefe diktiert, Bewerbungen um eine Arbeitsstelle oder eine Wohnung, Versöhnungsbriefe mit dem fernen Partner, Briefe an Familienangehörige, die getrennt vom arbeitenden Partner in der Großstadt irgendwo auf dem Lande leben.
Die Briefe werden sofort bezahlt, die Frau verspricht, sie auch noch am selben Tag zur Post zu bringen. Damit nimmt sie es jedoch nicht so genau, sie schickt Briefe ab, einige nicht, mischt sich so in die Privatangelegenheiten ihrer Kunden.
Ein Waisenjunge versucht mit der Hilfe der Schreiberin, die einen Brief an seinen Vater verfasst hat, seine Familie zu finden. Beide reisen bald gemeinsam durch das Land und finden am Ende auch wirklich einen Bruder des Jungen.
Dieser Film beeindruckt stark. Nicht die Geschichte, die er erzählt, bleibt in Erinnerung, sondern die Beziehung dieser beiden Menschen, die sich während der Handlung aufbaut. Da ist der kleine Junge, der sich zunächst voller Vertrauen an die Frau im Bahnhof wendet — und die Schreiberin, die anfangs sehr rücksichtslos nach ihrem Vorteil trachtet und aus jeder Situation Geld machen möchte. Es scheint unvermeidbar, dass sie nach Gelegenheiten sucht, die sie zu ihrem Vorteil ausnutzen kann — sie ist arm, muss alleine für ihren Lebensunterhalt sorgen, sieht nur wenige Möglichkeiten dazu und sie ist durch ihre Arbeit auf dem Bahnhof an eine sehr grobe, ungerechte und anderen Menschen gegenüber bedenkenlose Handlungsweise gewöhnt.
Jedoch erweist sich während des Films jede Tat, die ausschließlich zum eigenen Nutzen und auf Kosten des anderen geschieht, als fatal, als belastend für das eigene Gewissen. Und so bricht die Frau immer wieder auf, um ihre falschen Handlungen zu berichtigen. Es zeigt sich immer deutlicher, dass gute Motive, die zu einer reinen, uneigennützigen Tat führen, bleibende Freude bringen und nicht zum Nachteil führen. Handlungen auf dieser Basis zu tun ist für die Frau neu. Durch den Jungen, für den sie eine Verpflichtung fühlt, wird sie dazu gebracht. Beide erfahren auch, was wirkliche Zuneigung zu einem Menschen bedeutet. Frei von Erwartungen, ohne Eigennutz, für einen anderen hilfreich zu sein.
Auf ganz behutsame und unaufdringliche Weise wird an beiden Hauptdarstellern gezeigt, dass jeder Mensch, egal, wie lange er auch einen falschen Weg gegangen sein mag, und gleichgültig, wie viel er vom richtigen schon lernen konnte, einen ganz festen Sinn für gutes, hilfreiches Handeln hat. Die kleinen Gaunereien, die für die Akteure so selbstverständlich sind, so nötig für das eigene Überleben, werden so dargestellt, dass man erkennen kann — sie gehören nicht zu dem jeweiligen Menschen, sie werden von ihm getan, weil er es im Moment egoistisch für vorteilhaft hält und er die Auswirkungen auf andere außer Acht lässt. Er verstößt mit diesen Taten gegen den Befehl, den die Bibel so formuliert: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch" (Mt 7:12).
Die Folgen daraus erweisen sich auf die Dauer als heilsam, denn beide Hauptpersonen stellen fest, dass sie ohne die Gaunereien zufriedener und erfolgreicher sind.
Als die Frau den Jungen in Obhut seines Bruders verlässt, haben alle beide auf ihrem gemeinsamen ungewöhnlichen Weg eine tiefe Zuneigung, Verantwortungsgefühl und Fürsorge zueinander entwickelt.
