„Wir beten", sagte mir unsere Bibliothekarin, die an einem für uns denkwürdigen Mittwoch zusammen mit einem anderen Kirchenmitglied im Leseraum unserer Christian Science Zweigkirche Dienst tat. Ungefähr zwei Stunden vor Beginn der Mittwochabend-Zeugnisversammlung hatte ich im Leseraum angerufen, um mich nach der Situation um unser Kirchengebäude herum zu erkundigen. Ich fragte: „Sind unsere Fensterscheiben noch heil?" und meine Gesprächspartnerin antwortete kurz und bestimmt: „Aber natürlich!" Es war gut zu wissen, dass die Mitarbeiterinnen im Leseraum auch in einer unruhigen, nicht abschätzbaren Situation nur das Gute erwarteten!
Am späten Nachmittag hatte ich aus dem Rundfunk erfahren, dass vor der Zentrale einer großen Volkspartei eine Kurdendemonstration stattfinden würde. Diese Parteizentrale liegt unserem Kirchengebäude, nur durch eine schmale Straße getrennt, gegenüber. Die Medien verbreiteten Nachrichten von Tendenzen zur Eskalation bei den Demonstranten und von einem großem Polizeiaufgebot in der Innenstadt.
Die Gruppe von Demonstranten wurde ungefähr dreißig Meter vor unserer Kirche am Weitermarschieren gehindert und von der Polizei eingekreist. Es schien, als ob sich das Kirchengebäude mitten im Brennpunkt von Gewalt befand.
Unsere Bibliothekarin hatte mir in dem Telefongespräch weiterhin berichtet, dass die Polizei in der engen Straße, in der sich die Parteizentrale und unser Kirchengebäude befinden, einen „Kessel" gebildet und die Demonstranten darin umzingelt hielt (dieser Kessel lag nur wenige Schritte vom Eingangsbereich und der Glasfassade unserer Kirche entfernt). Wie sie mir erklärte, näherte sich aber bereits von der anderen Seite unserer Kirche her eine weitere Formation von Demonstranten. Diese neue Gruppe wurde ungefähr dreißig Meter vor unserer Kirche am Weitermarschieren gehindert und ebenfalls von der Polizei eingekreist. Es schien, als ob sich das Kirchengebäude mitten im Brennpunkt von Gewalt befand. In diesem Augenblick war mir sofort klar, wo an diesem Abend mein Platz sein würde: in der Mitwochabend-Versammlung unserer Kirche!
Mein Mann, der kein Christlicher Wissenschaftler ist, war mit meiner Entscheidung anfangs nicht einverstanden. Ich dankte ihm für seine Fürsorge, erklärte ihm aber, dass ich keine Angst hätte und ich gerade jetzt, wo viele Menschen ihre Sorgen und Befürchtungen durch eine Massendemonstration ausdrückten, meine Kirche, ihre heilende Botschaft und den Gottesdienst unterstützen müsste. Da ich mit meiner Entscheidung für die Kirche eine gottgegebene Pflicht erfüllte — oder ein gottgegebenes Recht wahrnahm —, war mir klar, dass „denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen" Röm 8:28. und sich diese Tatsache auch zeigen würde. Der erste Erfolg meines Vertrauens auf Gott und Seine unfehlbare Führung zeigte sich unmittelbar, denn mein Mann akzeptierte meinen Entschluss und unterstützte mich mit der ermutigenden Versicherung, dass er für ein gerechtes Anliegen genauso gehandelt hätte wie ich.
Auf der Fahrt zur Kirche betete ich. Natürlich, denn Gebet ist die aktivste und effektivste Haltung, die der Mensch in Situationen einnehmen kann, in denen er scheinbar machtlos Kräften ausgeliefert ist, die dem Frieden und dem auf Achtung und Respekt beruhenden Zusammenleben entgegenstehen. Am Beispiel von Elias' Erlebnis am Horeb Siehe 1. Kön 19. wird eindrucksvoll beschrieben, dass Gott nicht im Sturm, Erdbeben und Feuer zu finden ist. Diese Naturereignisse bedeuten für mich destruktive Empfindungen wie Hass, Menschenverachtung und die Verurteilung Andersdenkender. Im Grunde, könnte man sagen, sind solche Auswüchse fehlgeleiteter Empfindungen und Verhaltensweisen Belege für eine kollektive Unwissenheit über Gott und den wahren Menschen. Denn wenn ich mir im Klaren bin, dass Gott keinen Menschen bevorzugt oder benachteiligt, sondern jeden mit der gleichen Liebe und den gleichen guten Eigenschaften versorgt, kann auch das Urteil über Menschen nicht zu Disharmonie und Tumult führen. Aber der Stimme Gottes folgen heißt empfänglich sein für „das stille, sanfte Sausen", in dem Gott sich dem Propheten Elia offenbarte.
Ich gelangte ohne Schwierigkeiten an der Polizeiabsperrung vorbei in unsere Kirche. Dort war es eigentlich wie immer und doch entscheidend anders. Die Zeugnisversammlung war gut besucht — wie immer. Neben den meisten Mitgliedern waren auch Besucher und Freunde gekommen — ebenfalls wie immer. Unsere Erste Leserin leitete den Gottesdienst souverän und mit erkennbarer Liebe — auch das war wie stets der Fall. Was aber für mich und — wie sich in späteren Gesprächen zeigte — auch für die anderen Teilnehmer an diesem Gottesdienst offenbar wurde: Es herrschte eine Atmosphäre der „Einheit im Geist", wie das 4. Kapitel des Briefs an die Epheser überschrieben ist. Jeder hatte durch sein individuelles Gebet Anteil an dem Geschehen, das in der Apostelgeschichte mit den Worten „Diese alle waren stets beieinander einmütig im Gebet. . ." Apg 1:14. beschrieben wird. Zwar klang in unsere Lieder und Gebete das Skandieren unverständlicher Worte hinein, aber die Sicherheit, die in Jesaja verheißen wird: „Und der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein, und der Ertrag der Gerechtigkeit wird ewige Stille und Sicherheit sein, dass mein Volk in friedlichen Auen wohnen wird, in sicheren Wohnungen und in stolzer Ruhe", war an diesem Abend eine Tatsächlichkeit, und sie war spürbar.
Niemand war von dieser versöhnenden Einmütigkeit und Liebe ausgegrenzt, weder drinnen im Kirchenraum noch draußen auf der Straße. In dem für die Zeugnisse bestimmten Teil des Gottesdienstes dankten mehrere Mitglieder spontan, dass so viele Teilnehmer trotz der alarmierenden Meldungen zur Kirche gekommen waren. Der friedliche Ablauf des Tages und die ruhige Heimkehr sowohl der Demonstranten wie unserer Kirchenbesucher hat beispielhaft gezeigt, dass Gebet, Hingabe und Mut beitragen können, auch explosive Lagen zu wandeln. Es ist ein großer Segen, wenn man die Erfahrung machen darf, dass die Verheißungen des 91. Psalms eine erlebbare Realität sind und jeder Mensch sagen kann: Gott ist tatsächlich „meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe" Jes 32:17, 18..
