Die farbigen Glasfenster der Kathedrale von Chartres in Frankreich sind aus einfachen Materialien hergestellt — Flusssand, Birkenholz-Pottasche und Metalloxide für die Farben. Und doch sind sie von unbeschreiblicher Pracht. Sie besetzen die Wände der Kathedrale mit Glanz und Herrlichkeit: kobaltblaue, rubinrote, smaragdgrüne, amethystblaue, opalweiße Farbtöne. „Schauen Sie nur!", sagte unser französischer Reiseführer. „Es sind die Juwelen im Haus Gottes."
Diese Fenster nicht anzuschauen ist unmöglich. Sie sind unwiderstehlich. Sie fesseln den Blick, sobald man die Kathedrale betritt. Man muss einfach zu jedem einzelnen hingehen und es näher betrachten. Und dann entdeckt man, dass diese Juwelen einen Zweck haben, ja einen heiligen Zweck. Jedes Fenster hat eine Geschichte zu erzählen — eine Geschichte, die das Leuchten der Farben noch tausendmal übersteigt. Es ist die Geschichte der Bible.
Im 12. und 13. Jahrhundert, als die Kathedrale von Chartres gebaut wurde, hatten die meisten Menschen keine Bibeln. Denn die Bibel war damals noch nicht gedruckt worden und konnte die breite Masse nicht erreichen. Und selbst wenn sie schon gedruckt worden wäre, hätten doch nur wenige Menschen sie lesen können. Die Fenster mit der Glasmalerei waren daher in gewissem Sinne die Bibel für den Durchschnittsbürger in Europa. Die Menschen liebten diese Fenster und gaben großzügige Spenden dafür und für die Kirchen, in denen sie sich befanden. Auf diese Weise wurden ihnen, ihren Kindern und ihrer Welt die Schätze der Heiligen Schrift zugänglich.
Die Botschaft der Fenster von Chartres, wie auch der ganzen Bibel, ist simpel und kraftvoll zugleich. Für mich besteht die Botschaft darin, dass GOTT alle Seine Söhne une Töchter liebt und dass wir darauf vertrauen können, dass Er uns aus jeder Not — aus Versuchung, Krankheit und Leid — herausführt.
Man kann sich gut vorstellen, wie die Mütter und Väter den Kindern mit Hilfe der Glasmalerei die Bibel nahe gebracht haben. Sie sind vielleicht gemeinsam zu einem der Fenster hingegangen — zum Beispiel zu dem riesigen Spitzbogenfenster, auf dem abgebildet ist, wie Jesus seinen Freund Lazarus von den Toten auferweckt. Von Szene zu Szene haben sie dann den Bericht mit ihren Kindern verfolgt — von Lazarus' Krankheit und seinem Tod bis zu seinem Begräbnis und seiner weinenden Familie. Schließlich würden sie auf die Szene hinweisen, wo Jesus Lazarus wieder zum Leben erweckt, während seine Familie staunend im Hintergrund zuschaut.
Von Szene zu Szene und von Jahrhundert zu Jahrhundert haben auf diese Weise die Fenster von Chartres — wie auch von vielen anderen Kirchen — das Wort GOTTES für die Kinder, Frauen und Männer lebendig gemacht. Und das geschieht heute noch.
Biblische Visionen
Das Darstellen von Gottes Wort in Bildern ist nicht etwas, was mit der Glasmalerei erst begann. Es geht schon auf die biblische Zeit zurück, wo die Menschen oftmals Gottes Botschaften in Form von „Visionen", „Träumen" oder „Offenbarungen" empfingen. Der Patriarch Abraham war einer der Ersten, die das Wesen Gottes in solch einer Offenbarung oder einem „Gesicht" sahen. Die meisten Propheten des Alten Testaments hatten später ähnliche Erlebnisse, so etwa Samuel, Nathan, Jesaja, Jeremia, Hesekiel, Daniel, Obadja, Habakuk und Sacharja.
Männer und Frauen des Neuen Testaments, darunter auch Jesus, hatten ebenfalls göttliche Visionen. Eine der unvergesslichsten empfingen der Meister und drei seiner Jünger auf einem hohen Berg. Plötzlich umhüllte Jesus ein strahlendes Licht. Und dann erschienen die Propheten Mose und Elias neben ihm, die viele Hundert Jahre vor ihnen gelebt hatten. Siehe Mt 17:1-5.
Im Neuen Testament kommen auch andere außergewöhnliche Visionen vor. Zum Beispiel die Vision, die die christliche Gemeinde hatte, als sich am Pfingsttag der Heilige Geist — mit Feuer und einem gewaltigen Wind — auf den versammelten Christen niederließ. Oder die apokalyptische Offenbarung des Johannes, als die Stadt Gottes vom Himmel herabkam, eine Stadt „aus reinem Gold" und „geschmückt mit allerlei Edelsteinen" Offb 21:18-21..
Die Darstellung des Wortes Gottes in der christlichen Geschichte
Die frühen Christen illustrierten geistige Begriffe durch Malereien an den Wänden der Katakomben in Rom. In diesen unterirdischen Begräbnisstätten, in denen sich die Christen in Zeiten der Verfolgung verborgen hielten, malten sie Symbole, um einander zu ermutigen, am Glauben festzuhalten — Symbole wie die Friedenstaube, der Anker der Hoffnung und der Fisch, der sie an Jesu Speisung der Fünftausend erinnerte. Diese Christen stellten auch Bibelgeschichten an den Wänden der Katakomben dar, vor allem Geschichten, die zeigten, wie Gott Sein Volk von Unterdrückung und Tod errettet. Interessanterweise ist Jesu Auferweckung des Lazarus das Ereignis, das sie am häufigsten (dreiundfünfzigmal!) abbildeten.The Cambridge History of the Bible, 2. Bd., hrsg. von G. W. H. Lampe (Cambridge University Press, 1969), S. 280—282.
Im Mittelalter wurde die christliche Kunst auf die Kirchenwände übertragen — und schließlich auf die Kirchenfenster. Die Künstler begannen auch handgeschriebene Bibeln am Anfang des Neuen und des Alten Testaments mit Bildern zu illustrieren. Und sie versahen den Anfang eines biblischen Kapitels mit „illuminierten" Buchstaben. Wie die farbigen Glasfenster, so hatte auch diese Kunst eine wichtige Aufgabe: die Bibel zugänglicher und verständlicher zu machen.
Als im 15. Jahrhundert die Druckerpresse die Massenproduktion von Bibeln ermöglichte, wurden diese neuen Bibeln mit prächtigen Kupferstichen, Lithographien, Holzschnitten, Landkarten und Ähnlichem versehen. Die erste Ausgabe der King-James-Bibel von 1611 zum Beispiel enthielt eine von dem Antwerpener Künstler Cornelius Boel reich verzierte Titelseite und außerdem eine Karte vom Heiligen Land und bebilderte Anleitungen zum Studieren der Schrift. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte sind die Bibeln dieser Tradition weiter gefolgt und sind je nach den Bedürfnissen und dem Kunststil der Zeit mit Bildern ausgestattet worden.
Die ideale Beziehung zwischen Bild und Wort
In jedem Jahrhundert und jeder Kultur mag es verschiedene ideale Beziehungen zwischen Bildern und spirituellem Text geben, je nach den Erfordernissen des Augenblicks. Generell gesprochen ist es jedoch das Beste, wenn die Kunst den Text der Wahrheit verstärkt und so dem Leser hilft für die heilende Macht des Wortes empfänglich zu sein. Sollten die „Juwelen" jemals die Botschaft überstrahlen oder davon ablenken, dann ist eindeutig etwas aus dem Gleichgewicht geraten.
Mary Baker Eddy rang mit diesem Punkt, als sie und der Künstler James F. Gilman gemeinsam daran arbeiteten, ihr Gedicht Christ and Christmas [Christus und Weihnacht] zu illustrieren und zu veröffentlichen. Sie forderte ihn auf für seine Illustrationen göttliche Inspiration zu suchen und alles wegzulassen, was die Leser von der heilenden Aussage des Textes ablenken könnte. Sie half ihm sich um Führung an Gott zu wenden und von persönlichen vorgefassten Meinungen Abstand zu nehmen. „Gott wird Sie inspirieren, wenn Sie nur Seiner Widerspiegelung folgen" Painting a Poem (Boston: The Christian Science Publishing Society, 1997), S. 76., sagte sie zu ihm. Ein andermal erklärte sie: „Künstler ist nur, wer als Erstes wie als Letztes die Wahrheit liebt und anbetet." Ebd., S. 150.
Liebe zur Wahrheit — das ist es, was den Leuten hilft für eine geistige Idee die ideale Darstellungsweise zu finden. Und das war es auch, was Mrs. Eddy und die Kirchenmitglieder motivierte, als sie den Künstlern, die an der Glasmalerei im Originalgebäude Der Mutterkirche arbeiteten, Anleitungen gaben. Vor allem, so erklärte ein Kirchenmitglied, wollten sie „in der Gestaltung die von Christian Science gelehrten, geistigen Gedanken zum Ausdruck bringen" Joseph Armstrong und Margaret Williamson, Building of the Mother Church (Boston: The Christian Science Publishing Society), S. 44..
Eins der Fenster stellt die „Auferstehung des Lazarus" dar. Doch es vermittelt eine ganz andere Perspektive von Lazarus' Heilung als das Fenster in der Kathedrale von Chartres. Hier kommt Lazarus befreit und ohne Hilfe aus dem Grab heraus. Er hat einen friedevollen Ausdruck — seine Augen sind auf Jesus gerichtet, der mit der erstaunten Familie des Lazarus zusammensteht. In warmen, leuchtenden Farben spricht das Fenster ganz einfach, realistisch und machtvoll von der Natürlichkeit, mit der christliches Heilen stattfindet.
Alle visuelle Kunst — einschließlich Fotografie und Videofilme, das populäre Medium unserer Zeit — zielt darauf ab, eine Botschaft zu vermitteln. In dem Maße, wie es einer Kunstform gelingt, eine geistige Wahrheit anzudeuten, drückt sie Eigenschaften Gottes aus. Sie kann Schönheit, Gelassenheit, Liebe, Macht, Reinheit, Güte, reine Fröhlichkeit zum Ausdruck bringen. Solch eine Kunst hat einen spirituellen, einen geistigen Charakter. Und dieser Charakter wird geistig geschätzt. In Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift wird erklärt, wie das funktioniert: „Aus den unendlichen Elementen des einen Gemüts geht alle Form, Farbe, Qualität und Quantität hervor, und diese sind mental — sowohl primär wie sekundär. Ihre geistige Natur wird nur durch die geistigen Sinne erkannt." Wissenschaft und Gesundheit, S. 512.
Je mehr die Wissenschaft des Christentums im Weltdenken Fuß fasst, umso mehr werden neue künstlerische Ausdrucksformen sich dem annähern, worauf Mrs. Eddy hinweist, wenn sie schreibt: „. .. die Kunst der Christlichen Wissenschaft mit dem Wesenshauch des lebendigen Gottes ist ihrer Wissenschaft verwandt. . ." Vermischte Schriften, S. 372. Solche neuen Kunstformen werden den vielen Völkern der Erde relevante und hell erleuchtete Zugangswege zu den nie endenden Wundern von Gottes Wort verschaffen.