Es war ein Augenblick des Triumphs zu unerwarteter Zeit. Ursprünglich sollte Mary Baker Eddy keinen Vortrag auf der Tagung der Nationalen Vereinigung Christlicher Wissenschaftler in Chicago halten. Sie hatte den Veranstaltern ausdrücklich erklärt, dass sie nicht zu den Teilnehmern sprechen würde. Doch kurz bevor sie auf der Sitzung die Bühne betrat, eröffnete ihre der Vorsitzende, dass sie als Hauptsprecherin angekündigt worden war. Sie hatte nur wenige Augenblicke zur Vorbereitung, doch es wurde eine der erfolgreichsten Ansprachen ihres Lebens. Die Zuhörerschaft saß wie gebannt da. Selbst die Reporter vergaßen, sich Notizen zu machen. Die Tagung in der Central Music Hall von Chicago erregte in der Öffentlichkeit ungeheures Aufsehen, mehr als jede andere Versammlung von Christlichen Wissenschaftlern außerhalb Neuenglands. F. W. Carr: „Mrs. Eddy's Chicago Address: Its Story Told After 50 Years", The Christian Science Monitor vom 14. Juni 1938.
Die Central Music Hall wurde damals als einer der schönsten Säle in Amerika angesehen. Es war der größte Saal in Chicago, wo Mark Twain und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Vorträge hielten. Als Mary Baker Eddy am 14. Juni 1882 Mrs. Eddys Buch Vermischte Schriften gibt das Datum 13. Juni an. Das ist falsch. Sie hielt zwar am 13. und 14. Juni in Chicago Ansprachen, doch der Wortlaut auf Seite 98- 106 ihres Buchs ist im wesentlichen der ihrer Ansprache vom 14. Juni. zur Versammlung sprach, war der Saal überfüllt. Hundert ihrer Schüler saßen hinter ihr auf der Bühne, achthundert christlich-wissenschaftliche Delegierte schauten vom Parkett zu ihr auf und die restlichen der fast zweitausend Plätze waren von Anhängern und Besuchern eingenommen, bis hin zum obersten Rang. Außerdem drängten sich die Leute in den Gängen.
Trotz der großen Besucherzahl herrschte „absolute Stille", als sie sprach. Ein Besucher berichtet: „Sie sprach mit fester und wohlklingender Stimme; ihre Aussprache war klar; sie hatte eine ruhige und natürliche Sprechweise und strengte sich nicht an laut zu sprechen; sie sprach flüssig und klar. E. E. Cooley: „Some Reminiscences of Mary Baker Eddy" (1932), S. 1. Als Eddy zu Ende gesprochen hatte, stiegen die dankbaren Zuhörer auf das Podium, wo — wie die Chicago Daily Tribune schrieb — „alte Freunde und neue Bewunderer sie mehr als eine Stunde lang auf der Bühne umdrängten" Chicago Daily Tribune, 15. Juni 1888..
Mary Baker Eddys Bedeutung als Rednerin wird aus mancherlei Gründen oft übersehen, und einer davon war, dass sie die Verherrlichung ihrer Person befürchtete. Um im Amerika des 19. Jahrhunderts Informationen weiterzugeben, Ideen unter die Leute zu bringen und sich beruflich zu etablieren, bediente man sich in erster Linie öffentlicher Ansprachen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein waren es Schriftsteller und Redner — nicht Stars, Fernsehsendungen und Filme —, die Amerikas Weltbild formten. Durch Vorträge fanden „Informationen und Gedanken Verbreitung, wurde das Niveau der öffentlichen Diskussionen angehoben und gleichzeitig die Sprache der Nation geformt" J. H. McBath: „The Platform and Public Thought" aus The Rhetoric of Protest and Reform, 1878-1898, hrsg. P. H. Boase, 1980, S. 337.. Wer für eine Idee werben wollte, musste sich in der Öffentlichkeit gut und überzeugend darstellen können.
Öffentliche Reden und die Frau des 19. Jahrhunderts
Heute unterscheiden sich öffentliche Ansprachen von denen des 19. Jahrhunderts wesentlich im Stil, Zweck und in ihrer Bedeutung. Früher sollten Ansprachen mit Hilfe von logischen Argumenten und Sprechkunst Wissen und Moral fördern und wurden daher eher als eine Darbietung angesehen, „als eine Art intellektuelle Theatralik", wie es ein Gelehrter genannt hat. D. M. Scott: „The Popular Lecture and the Creation of a Public in Mid-Nineteenth Century America", Journal of American History 66, März 1980, S. 806. Zusammen mit dem damals charakteristischen Streben nach Horizonterweiterung, nach Wissen und Weiterbildung, und dem Hang kulturelle und pädagogische Institutionen zu gründen, führte das Interesse an nutzbringenden Diskursen dazu, dass ein hoher Bedarf an interessanten und lehrreichen Vorträgen bestand. Und solche Darbietungen und Diskurse wurden vorzugsweise Männern überlassen.
Die Häufigkeit von Vorträgen im 19. Jahrhundert war ein Phänomen eigener Art. In Massachusetts gab es 1840 mehr als hundert so genannte Lyzeen, literarische Vereine, die Vorträge veranstalteten. T. Morrison, Chatauqua: A Center for Education, Religion, and the Arts in America, 1974, S. 175. Im ganzen Land wurden damals an fast viertausend Orten öffentliche Vortragsreihen angeboten. Die Themenvielfalt war ebenso eindrucksvoll. In einer kleinen Stadt in Neuengland zum Beispiel bestand das Programm aus Vorträgen über Astronomie, Physiologie, Konversation, das Mittelalter, das Menschsein und „die Aufgabe der Frau". In einem einzigen Jahr (1837-38) konnten die Einwohner von Boston aus 26 verschiedenen Vortragsreihen auswählen! Scott: „Popular Lecture", S. 791, Information über Boston aus D. J. Boorstins The American: The National Experience, 1965, S. 315.
Zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs (1861-65) hatten Frauen, die für die Abschaffung der Sklaverei und für mehr Frauenrechte eintraten, insofern Fortschritte erzielt, als sie als Rednerinnen Anerkennung fanden, doch bildeten Frauen auf dem Rednerpodium immer noch eine Ausnahme. Eddy war eine der Frauen, die in den letzten beiden Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende öffentliche Reden hielt. Darüberhinaus wagte sie sich mit ihren Vortragsthemen — Religion, Wissenschaft und geistliche Dinge — in Gebiete vor, die gewöhnlich Männern vorbehalten waren.
Frauen, die das Vortragspodium betreten wollten, sahen sich den schiedensten Hindernissen gegenüber. Die Gesellschaft nahm Anstoß an ihrer Tätigkeit und althergebrachte Konventionen sahen die Rednertätigkeit als unnatürlich an, als nicht damenhaft oder gar als unchristlich. Zu Eddys Zeit hatten das alle Frauen von Kind auf zu hören bekommen.
Für viele Frauen (und auch manche Männer), die eine größere Zuhörerschaft ansprechen wollten, stellten große Säle ein weiteres Hindernis dar, denn man musste eine kräftige Stimme besitzen, um überall im Saal gehört zu werden. Ein ambitionierter Redner musste erst Sprechunterricht nehmen. Was Frauen betraf, so wurde lautes Sprechen als unweiblich angesehen.
Letztlich mussten sich Vortragende damals eines bestimmten Sprechstils bedienen, um vom Publikum ernst genommen zu werden. Rhetorik — die Lehre von der Redekunst — war eine hochentwickelte Form der Argumentation. Rhetorik wurde an Colleges und Universitäten gelehrt, eine nahezu exklusive Männerdomäne. Die im 19. Jahrhundert bestehenden Regeln und Konventionen für öffentliche Ansprachen gingen auf die Oratoren im antiken Griechenland und Rom zurück und hatten wenig mit der Alltagssprache gemein. Für Frauen bestand wenig Gelegenheit, von dieser Sprache Gebrauch zu machen.
In den ersten Jahren, in denen Eddy Ansprachen hielt, entwickelte sie ihren eigenen Sprechstil, der sich auf den begrenzten Rhetorikunterricht gründete, den sie als Kind genossen hatte. Wie sie sich später erinnerte, hatte sie zwei populäre Leitfäden der Rhetorik aus dem 19. Jahrhundert gelesen, Hugh Blairs Vorlesungen in Rhetorik und Belletristik und Richard Whatelys Elemente der Logik. Siehe „Eine irrige Behauptung berichtigt", Die Erste Kirche Christi, Wissenschafter, und Verschiedenes, S. 304. Sie hatte auch Rhetorik am Beispiel ihres geliebten Bruders Albert gelernt, der elf Jahre älter war als sie. Albert, ein Jurist und angehender Politiker, starb 1841 im Alter von 31 Jahren. Vor seinem Tod war er bereits ein populärer Redner gewesen, der in ganz New Hampshire Vorträge und Reden zu besonderen Anlässen und politische Ansprachen hielt.
Vom Herzen sprechen
Hätte Mary Baker Eddy die zeitgenössischen Anschauungen über Frauen und Redekunst akzeptiert, so wäre sie wohl nie hinter ein Rednerpult getreten. Sie war jedoch ein kommunikativer Mensch. Die Presse hatte Beiträge von ihr veröffentlicht und sogar als junge Frau hatte sie schon Vorträge gehalten. Doch der echte Antrieb dazu sollte erst Mitte der 1860er Jahre kommen, als ein eindrucksvolles Heilungserlebnis sie veranlasste, das, was sie von der Beziehung zwischen Spiritualität und Gesundheit gelernt hatte, niederzuschreiben und anderen nahe zu bringen — und weitere Heilungen zu bewirken. „Jene kurze Erfahrung", schrieb sie später, „schloss einen Schimmer der großen Wahrheit in sich, die ich seitdem anderen klarzumachen versuchte: dass Leben in und aus dem Geist und die einzige Wirklichkeit des Daseins ist." „Eine Ursache und eine Wirkung", Granite Monthly, Oktober 1896, Nachdruck in Vermischte Schriften, S. 21-30.
Eddy war auch praktisch eingestellt. Obwohl es ihr an Erfahrung mangelte, erkannte sie, dass sie ein Buch schreiben, Unterricht geben und Vorträge halten musste, um „die große Wahrheit" zu verbreiten. Von 1872 bis 1875 lebte sie von ihren Ersparnissen, wohnte in Pensionen, brachte einigen Schülern ihre Heilmethode bei und hielt in einem Manuskript fest, was sie über das Heilen und über Spritualität entdeckt hatte. Sie war überzeugt, dass ihr Buch Wissenschaft und Gesundheit, das sie 1875 mit ihren Schülern auf eigene Kosten drucken ließ, für die Menschheit von Bedeutung sein würde.
Sie trat auch mit ihrer Entdeckung, wie sie es später nannte, an die Öffentlichkeit. Fünf Monate, bevor die Druckerei Wissenschaft und Gesundheit fertig gestellt hatte, hielt sie vor einer kleinen Zuhörerschaft in der Concert Hall in Lynn, 22 km nördlich von Boston, einen Vortrag mit dem Titel „Christus heilt die Kranken". Da ihre Ansprache eine gute Aufnahme fand, hielt sie danach fünf Sonntagabendpredigten im Guttemplersaal in Lynn.
Als sie 1878 vorübergehend nach Boston zog und eine überarbeitete Ausgabe von Wissenschaft und Gesundheit herausbrachte, begann für sie ein Jahrzehnt, das mit Vorträgen, Unterrichten und Heilarbeit angefüllt war. Als Erstes mietete sie das Shawmut Baptist Tabernacle und hielt dort sonntagnachmittags eine Reihe von Predigten. Wenn der Sall auch nicht ideal war (sie musste ihn zum Beispiel vor den Gottesdiensten erst herrichten und „Papierfetzen und Orangenschalen aufsammeln" C. Shannon, „Golden Memories", 2. Teil, S. 4.), so erwies sich das Tabernakel doch als ein geeignetes Forum. Hier wurde sie als öffentliche Rednerin bekannt und lernte gleichzeitig, gelassen auf ernst gemeinte Fragen und kühle Kritik einzugehen — und auch auf Spott. Einem Brief aus dem Jahr 1879 zufolge war sie nach einem Vortrag überaus zufrieden, wenn nicht gar in jubelnder Stimmung, weil sie eine schwierige Situation überstanden hatte:
Es wäre schön gewesen, wenn Sie letzten Sonntag auf der Versammlung im Tabernakel hätten sein können ... [Drei standen auf und stellten Fragen], ich antwortete und gewann jedesmal; einer der Drei erklärte sich mit meiner Antwort zufrienden, die anderen hatten allen Grund dazu, denn die Zuhörer riefen mir zu, klatschten und stampften mit den Füßen und der Pfarrer untersagte ihnen das und fuhr dann fort, ich wäre „in manchen Punkten auf dem Holzweg" und ich wollte dem Pfarrer antworten, doch ließ er keine Ruhe und die Zuhörer riefen: „Lass sie sprechen" usw. L02463, Brief an C. Choate, 24. Januar 1879.
Etwa ein Jahr später, als M. B. Eddy Rektorin ihres neu gegründeten Massachusetts Metaphysical College war, hielt sie Versammlungen in größeren Sälen ab, zuerst in der Fraternity Hall in Bostons Parker-Memorial-Gebäude. 1879 holten ihre Schüler eine Gründungsurkunde für eine Kirche ein, und schon bald hielt Eddy Gottesidenste ab, wobei sie ihre Zeit als Seelsorgerin teils in der Hawthorne Hall in Boston, teils in ihrem Haus in Lynn und später in ihrem Haus in Boston zubrachte.
Die darauf folgenden Jahre waren mit allen möglichen Aktivitäten angefüllt. 1883 gründete Eddy die Monatsschrift Journal of Christian Science, hielt Predigten und unterrichtete Schüler an ihrem Metaphysical College, das sich jetzt in Boston befand. In dem College wie auch in der Hawthorne Hall, der Chickering Hall in Boston und in anderen Sälen hielt sie Vorträge über Christian Science und Metaphysik.
Das wachsende Interesse der Öffentlichkeit an Christian Science zeigt sich 1884 bei ihrer ersten Reise nach Chicogo. Vierhundert Zuhörer füllten die Hershey Hall und der Endeffekt war, dass Eddy 25 neue Schüler gewann und zwanzig Abonnements für das Journal und 30 Exemplare von Wissenschaft und Gesundheit verkaufte. L02069, Brief an E. J. Smith, 25. Juni 1884. Als ihre Kirche 1885 für den Kommunionsgottesdienst die Odd Fellows Hall in Boston mietete — bei diesem Gottesdienst wurden neue Mitglieder aufgenommen —, fanden sich 800 Besucher ein.
How Christianity Lost Its Element of Healing
Fraternity Hall, Parker Memorial Hall
20. April 1879
Fear
Hawthorne Hall
21. März 1880
Life
Hawthorne Hall
28. März 1880
Christian Healing
Hawthorne Hall
11. April 1880
How the Sick Can Be Healed Instantaneously
Hawthorne Hall
9. Mai 1880
Practical Metaphysics
13 First Street, Washington, D.C.
Februar 1882
Jesus as Our Exemplar in Healing
C.S.A. Meeting
Massachusetts Metaphysical College
7. Januar 1885
A Healing and an Unhealing Religion
Odd Fellows Hall
8. Februar 1885
The Theology of Christian Science
Hawthorne Hall
14. Juni 1885
C.S.A. Meeting
Massachusetts Metaphysical College
1. Juli 1885
Names and Baptism
Chickering Hall
26. Februar 1888
Science and Christianity
Steinway Hall, New York City
15. Februar 1889
Vorträge und Predigten
Es folgt eine Liste von ausgewählten Vorträgen und Predigten, die die Vielfalt der Themen von M. B. Eddys öffentlichen Ansprachen zwischen 1878 und 1889 zeigt. Die Ansprachen fanden in Boston statt, wenn nicht anders angegeben.
Art of Healing Through Divine Power
Shawmut Baptist Tabernacle
24. November 1878
The Bible Teaches Us How to Heal the Sick
Shawmut Baptist Tabernacle
8. Dezember 1878
What Is It That Sins? What Is It That Is Sick?
Shawmut Baptist Tabernacle
2. Februar 1879
God Is the Principle of Being
That Heals the Sick
Fraternity Hall, Parker Memorial Hall
23. Februar 1879
The Origin of Man
Fraternity Hall, Parker Memorial Hall
30. März 1879
The Truth That Casts out Devils and Heals
the Sick
Fraternity Hall, Parker Memorial Hall
6. April 1879
How to Be Healthy and Happy
Fraternity Hall, Parker Memorial Hall
13. April 1879
