In diesen Jahren gewann Mary Baker Eddy an Selbstsicherheit bei ihren Vorträgen. Viele äußerten sich lobend über den Klang ihrer Stimme, ihre Überzeugungskraft, ihre Eloquenz und Logik und ihre würdevolle Haltung. Die körperlichen Heilungen, die ihre Predigten und Vorträge zuweilen begleitet hatten, traten häufiger und spontaner auf. Ein Christlicher Wissenschaftler aus der Zeit erinnerte sich später an eine besonders eindrucksvolle Osterpredigt:
In der Frühzeit von C. S. [Christian Science] predigte Mrs. Eddy am Sonntagnachmittag. Am Sonntagmorgen ging ich zur Dreifaltigkeitskirche und hörte Bischof [Phillips] Brooks zu ... An einem Ostern hörte ich Bischof Brooks' Predigt über die „Auferstehung". Eine großartige Darlegung. Nach dem Mittagessen hörte ich Mrs. Eddy in der Chickering Hall über dasselbe Thema predigen ... Während ich ihr zuhörte, ließen mich ihre Worte förmlich sehen, wie Jesus dem Grab entstieg, Sieger über den „letzten Feind" wurde und sein Körper so vergeistigt war, dass er durch verschlossene Türen gehen und mit seinen Jüngern zusammenkommen konnte, womit bewiesen wurde, dass Materie keine Substanz besitzt, wie Christian Science lehrt. Die Auferstehung war jetzt keine schöne Bibelgeschichte mehr, die blindgläubig angenommen werden musste. Sie war eine unbestrittene Tatsache. Welche Macht verlieh Mrs. Eddy die Fähigkeit, uns den lebendigen Christus nahe zu bringen? Es war nicht allein die schöne, wunderbare Bildhaftigkeit ihrer Sprache. Der Geist dieser Predigt war es, der heilte. Es war eine göttliche Macht. Brief, L. Prescott an L. P Powell (13. Januar 1931).
Doch nicht alle Zuhörer wussten Eddys Predigten und Vorträge zu schätzen. Oft stellten ihr Zuhörer feindselige Fragen. Jahrelange Erfahrung mit Kritik an bestimmten Stellen in ihren Vorträgen ließ sie liebenswürdig darauf antworten. Als sie sich einmal 1885 im Bostoner Tremont Temple einem überwiegend feindlich eingestellten Publikum von mehr als zweitausend Menschen gegenübersah, wurde ihre Geschicklichkeit schwer auf die Probe gestellt. Bei einem der sehr populären Mittagsvorträge, die der Pfarrer Joseph Cook montags im Tremont Temple veranstaltete, hatte der Pfarrer Adoniram J. Gordon, der baptistische Verfasser des Buches „The Ministry of Healing" [Heilende Seelsorge], (1882), ihre Gedanken verurteilt. Diese Vorträge waren von der Art wie etwa die heutigen Talkshows über aktuelle Themen. Für viele Menschen in Boston gehörten sie zur wöchentlichen Routine. Obgleich Eddy im Christian Science Journal und in einer Predigt auf die Kritik eingegangen war, drängten ihre Schüler sie, sich bei diesen Vorträgen am Montag Zeit zu erbitten, um eine persönliche Entgegnung auf Gordons Bemerkungen über Christian Science zu liefern. Man bewilligte ihr zehn Minuten Zeit. Vor einer überwiegend männlichen und sich ablehnend verhaltenden Zuhörerschaft nahm Eddy sicher und wortgewandt zu Gordons Angriffen Stellung, wobei sie sich an die ihr zugeteilte Zeitspanne hielt. Während einige Anhänger am Ende ihrer Rede applaudierten, blieb der Rest der Menge still und schien verschlossen.
Ihre mutige Entgegnung im Tremont Temple und ihre Ansprache drei Jahre danach in der Central Music Hall in Chicago sind eindrucksvoll und aufschlussreich. Bei diesen Ansprachen stand sie unter großem Druck, doch jedesmal fanden sie und Christian Science mehr Anerkennung. In ihrer Autobiografie Rückblick und Einblick (1891) erwähnt Eddy jedoch diese Ereignisse nicht. Anscheinend sah sie selber sie nicht als bedeutende Leistungen an. Auch äußert sie sich nicht über eine andere, oft zitierte Ansprache, die sie 1889 vor tausend Christlichen Wissenschaftlern in der Steinway Hall in New York hielt.
Obwohl M. B. Eddy sich zu einer fähigen Rednerin entwickelt hatte, so steht doch fest, dass sie später den Erfolg einer Ansprache anders bewertete als die Redner der damaligen Zeit. Eine überzeugende Argumentation, klare Aussprache, ein dankbares Publikum und emotionsgeladener Beifall waren nicht genug. Sie legte strengere Maßstäbe an. In einem Brief an Archibald McLellan, den Chefredakteur der Christian Science Zeitschriften, erklärte sie 1903: „Heilen ist die beste Predigt, Heilen ist der beste Vortrag und auch die ganze Demonstration von C. S. [Christian Science]." L03057, Brief an A. McLellan (18. Juni 1903). Aus ihrer Sicht war eine Ansprache dann erfolgreich, wenn die dargelegten Gedanken das Leben der Menschen veränderten.
„... die ganze Demonstration"
Gegen Ende der 1880er Jahre, als Mary Baker Eddy auf ihren 70. Geburstag zuging, überließ sie den Unterricht und das Predigen weitgehend ihren Schülern und sprach nur noch gelegentlich vor der Öffentlichkeit. Obwohl sie Jahre damit zugebracht hatte, Christian Science in Boston durch persönliche Auftritte und öffentliche Ansprachen zu etablieren, hielt sie es für besser, nicht auf ihren Erfolg zu setzen. Sie zog nach Concord in New Hampshire und sprach und predigte nur noch selten in der Öffentlichkeit. Ihre Biografin Gillian Gill schreibt: „Es lag Eddy fern, aus dem Ruhm, den sie 1889 als Rednerin erlangt hatte, Kapital zu schlagen, auch nicht aus ihren Vorträgen in Amerikas Großstädten oder ihren regelmäßigen Predigten in Boston und in der Kirche nahe bei ihrem Wohnsitz in Concord, New Hampshire. Stattdessen verfasste sie in den letzten zwanzig Jahren ihres Lebens Predigten und Briefe, die dann verschickt und in ihrem Namen verlesen wurden." G. Gill: Mary Baker Eddy (1998), S. 350.
Auch wenn Eddy sich vom Rednerpult verabschiedet hatte, so wusste sie doch, dass öffentliche Vorträge für den Fortschritt von Christian Science entscheidend waren. 1898 wies sie daher den Vorstand ihrer Kirche an, einen Vortragsrat zu bilden. Die jährlich ernannten Mitglieder dieses Rats sollten Vorträge über Christian Science halten, die „eine wahre und gerechte Erwiderung auf öffentliche, gegen [Christian Science] gerichtete Angriffe einzuschließen und die Tatsachen in bezug auf das Leben der Pastorin Emerita zu bezeugen" hatten.Handbuch Der Mutterkirche, 89. Ausgabe, Art. XXXI, Abschn. 2. Mit diesem Vortragsrat wird Christian Science eine Stimme in der Öffentlichkeit verliehen, die die in Wissenschaft und Gesundheit enthaltene Botschaft wirksam und wahrheitsgetreu verbreitet.
Die unveröffentlichten Schriften in der Sammlung der Bibliothek zeigen deutlich an, wie viel Aufmerksamkeit M. B. Eddy ihrem Vortragsrat widmete, denn sie hielt dessen Mitglieder — Männer und Frauen — dazu an, aus dem Herzen zu sprechen. Sie forderte Engagement, Professionalität und Übung sowohl in der Vortragskunst als auch im Heilen. Das geht aus einem Brief hervor, den sie 1899 an ihren Schüler William Miller schrieb:
Ich habe Ihren Vortrag — gehalten am 5. Juni 1899 und in unserem Dezember-Journal veröffentlicht — gelesen, so wie ich alle Vorträge meiner Schüler lese.
Ich setze große Hoffnungen auf Sie und habe Ihnen eine wichtige Arbeit im Weingarten unseres Herrn gegeben. Folgendes sind einige Fehler in Ihrem Vortrag ...
Sie müssen verstehen, dass Mutter aus Liebe so zu Ihnen spricht und weil sie an Ihrem Wohlergehen Anteil nimmt.
Sie müssen beim Vortraghalten gründlicher mit Ihrem Thema vertraut sein. Fangen Sie sofort an, sich in Ihr Lehrbuch zu vertiefen, und fahren Sie damit fort, bis Sie dieses Ziel erreicht haben. V01694, Brief an W. Miller, (20. Dezember 1899). 6 L04252, Brief an C. Norton (24. März 1902).
Und ein paar Jahre danach gab sie Carol Norton, einer anderen Schülerin, diesen speziellen Rat:
Hier ist ein Ratschlag, der für Ihren Erfolg als Vortragende wichtig ist. Vermeiden Sie Wortreichtum. Kürze und sorgfältig ausgewählte Worte, die Ihren Sinn verdeutlichen, machen einen Vortrag viel interessanter. Sprechen Sie nie, ohne etwas Wichtiges zu sagen, und sagen Sie es, ohne dass der Hörer müde wird, bevor es gesagt ist — mit wenig Worten wie möglich und mit genügend Pausen und deutlicher Aussprache. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem schon jetzt beachtlichen Erfolg, doch Kleinigkeiten bringen Vollkommenheit zustande, während Vollkommenheit keine Kleinigkeit ist.Christian Science Sentinel (15. März 1900), Die Erste Kirche Christi, Wissenschafter, und Verschiedenes, S. 248.
Die Maßstäbe, die Mary Baker Eddy für gut gehaltene Vorträge über die von ihr entdeckte Wissenschaft setzte, gehen aus einem Brief hervor, den sie 1900 an den Vortragsrat schrieb. Nachdem sie die Vortragenden die „nötigen und unentbehrlichen Bürgen" für das 20. Jahrhundert nennt, fährt sie fort: „Die Christusart, das Leben zu verstehen — Sünde und Leiden und deren Strafe, den Tod, auszurotten —, habe ich weitgehend Euch, meinen treuen Zeugen, übertragen. Ihr geht hinaus, um dem Feind mit liebevollem Blick und mit der Religion und Philosophie der Arbeit, der Pflicht, der Freiheit und Liebe entgegenzutreten, um die allgemeine Gleichgültigkeit, den Zufall und die Glaubensbekenntnisse herauszufordern." Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 201.
Im weiteren Sinn dehnte Mary Baker Eddy jedoch ihren Maßstab für gutes öffentliches Reden auf alle Leser von Wissenschaft und Gesundheit aus. In diesem Buch schreibt sie neben der Randüberschrift „Praktisches Predigen": „Die beste Predigt, die je gehalten wurde, ist die Wahrheit, die durch die Zerstörung von Sünde, Krankheit und Tod praktisch angewandt und demonstriert wird." 8
Im Laufe ihres Lebens wurde Eddy eine ausgezeichnete Rednerin und sie hätte ohne weiteres auf Vortragsreisen gehen und in den Lyzeen sprechen können. Ihre Predigten in der Kirche fanden ebenso eine gute Aufnahme. Doch wollte sie nicht damit fortfahren. Vorträge und Predigten waren lediglich Mittel zum Zweck. Rein rednerische Erfolge — ob das brillante Verteidigen ihrer Ideen vor einer feindseligen Zuhörerschaft im Tremont Temple oder eine Ansprache vor einem enthusiastischen Publikum in Chicagos Central Music Hall — bedeuteten ihr nicht viel, es sei denn, sie veränderten das Leben der Menschen, brachten ihnen Gesundheit und verbesserten ihr Los. Mary Baker Eddy setzte einen hohen Maßstab für „praktisches Predigen" und bewirkte damit, dass es „die beste Predigt" war, „die je gehalten" wurde.
