Heilung hat mit Krankheit zu tun und mit Gesundheit — ebenso viel, möglicherweise noch mehr mit den Vorstellungen der Menschen von Krankheit und Gesundheit. Diese aber decken sich in keiner Gesellschaft mit den Lehren und Modellen der jeweils geltenden Heilkunde. Das trifft selbstverständlich auch für die Gegenwart und die moderne Medizin zu.
Heilung hat mit Krankheit und Gesundheit zu tun, aber auch mit den Erwartungen an die Heiler. Bei Heilung geht es außer um das Tun der Heiler um Heilserwartungen, um die vertrauensvolle, verzweifelte, die gläubige Hoffnung der Heilungsuchenden. ...
Im Gegensatz zum weit verbreiteten positiven Vorurteil der Öffentlichkeit befinden sich die Krankheiten mit geklärten Ursachen und kausalen Behandlungsmöglichkeiten in der Minderheit. ...
Wir wissen viel weniger über Ursache und Entstehung der meisten psychischen Störungen, als wir das in den 60er oder 70er Jahren geglaubt haben. Wir haben Vorstellungen davon; und die verändern sich von Jahr zu Jahr. Weil das so ist, ist Zurückhaltung am Platz, wenn wir uns die Frage nach dem ursächlichen Zusammenhang von Therapie und Gesundung stellen.
Das gilt beileibe nicht nur für psychische Störungen. Auch bei Körperlichen Erkrankungen bestehen systematische Schwierigkeiten von Diagnose und Abgrenzung. ...
Wir können viel weniger Erkrankungen klar und eindeutig voneinander abgrenzen und diagnostizieren, als wir dies möchten. Wir kennen die Ursachen zahlreicher Krankheiten nicht; und wenn wir sie kennen, können wir viele von ihnen dennoch nicht ursächlich behandeln. Die Wirklichkeit der Medizin entspricht ihrem Bild von sich selbst allenfalls annäherungsweise. Im medizinischen Alltag, in Körpermedizin und Seelenheilkunde, ist alles anders. Allzu oft sind wir genötigt, wenig spezifische Krankheiten und Syndrome mit wenig spezifischen oder gar unspezifischen therapeutischen Methoden zu behandeln. ...
Objektiv kann die Medizin ihre Heilungsversprechen wieder und wieder nicht einhalten. Diese Erfahrung führt aber nicht etwa zu Ernüchterung — zu dem Bewusstsein, dass die Heilkunst ihre Grenzen hat. Die Lebenslüge der Medizin wird nicht entlarvt.
In der direkten Konfrontation würde keine Ärztin, würde kein Arzt die Grenzen medizinischen Handelns bestreiten — auch und gerade gegenüber den ihnen anvertrauten Kranken nicht. Aber nach außen vermitteln sie ein anderes Bild: Wenn wir uns noch mehr bemühen, noch mehr Mittel zur Verfügung haben, noch mehr forschen, noch bessere Technik noch besser beherrschen, wenn die Gentherapie erst etabliert ist, dann können wir noch mehr leisten; dann ist Hoffnung; dann gibt es vielleicht doch keine Grenzen.
Was in der Öffentlichkeit ankommt, ist dieses hoffnungsvolle Bild in Gestalt eines Versprechens, an dem die Medizin scheitern muss. ... Wir alle kennen die Klagen über die seelenlose Hochleistungsmedizin, über die kalte Technik, die fehlende Ganzheitlichkeit der vorherrschenden Schulmedizin. ... Anders als zu Beginn unseres Jahrhunderts sind es nicht die Leistungen der Medizin, die ihr Bild in der Öffentlichkeit prägen, sondem ihr Unvermögen, bei unverminderten Hoffnungen und anscheinend unbeirrbarem Fortschrittsglauben.
