Wie Jesus versucht Satan, sich nachahmen zu lassen, aber nicht in derselben Weise und nicht aus denselben Gründen. Er will vor allem andere verführen. Satan als Verführer — nur an ihn erinnert sich die moderne Welt noch, etwas herablassend und etwas mokant selbstverständlich.
Auch Satan bietet sich unserem Begehren als Vorbild an, und offensichtlich fällt es leichter, ihn statt Jesus nachzuahmen, rät er uns doch, uns allen unseren Neigungen hinzugeben, ungeachtet der Moral und ihrer Verbote.
Wer auf diesen höchst liebenswürdigen und höchst modernen Lehrmeister hört, der fühlt sich erst einmal „befreit”, doch dieser Eindruck hält nicht an, denn wer auf Satan hört, geht rasch all dessen verlustig, was vor der konfliktuellen Mimetik schützt. Statt uns vor den uns gestellten Fallen zu warnen, lässt Satan uns hineintappen. Er unterstützt die Vorstellung, die Verbote seien „zu nichts nütze” und ihre Übertretung berge keinerlei Gefahr in sich.
Meiner Auffassung nach sind in sämtlichen mythischen und biblischen Gewalttaten reale Ereignisse zu sehen; dass sie in allen Kulturen vorkommen, hat mit einem überall auftretenden Typus zwischenmenschlicher Konflikte zu tun: mit den mimetischen Rivalitäten, also mit dem, was Jesus die Ärgernisse nennt.
Diese Ereigniskette, dieser mimetische Zyklus, wiederholt sich, denke ich, in den archaischen Gemeinschaften unablässig und in mehr oder weniger raschem Rhythmus. Um sie freizulegen, sind die Evangelien unentbehrlich, denn dort allein wird der Zyklus verständlich beschrieben und sein Wesen erklärt.
Langsam, aber unwiderstehlich entgleitet die Welt dem Zugriff des Religiösen. Die Religionen gehören in unserer Welt zu den vom Aussterben bedrohten Arten. Die kleinsten unter ihnen sind längst untergegangen, um die größten, selbst um den unbezwingbaren Islam und selbst um den zahlenmäßig kaum fassbaren Hinduismus, steht es weniger gut, als gemeinhin angenommen wird.
In einigen Regionen verläuft die Krise schleichend und bleibt fast unbemerkt, so dass sie noch ohne allzu großen Glaubwürdigkeitsverlust geleugnet werden kann, doch das wird sich ändern. Die Krise ist überall, und überall beschleunigt sie sich, wenn auch in unterschiedlichen Rhythmen. Ihren Anfang genommen hat sie in den zuerst christianisierten Ländern, und dort ist sie auch am weitesten fortgeschritten.
Unsere klügsten Köpfe und unsere Besserwisser erwarten seit Jahrhunderten den Untergang des Christentums. Heute wagen sie erstmals die Behauptung, seine Stunde habe geschlagen. Feierlich, wenn auch etwas geistlos verkünden sie, wir seien in die nachchristliche Ära der Menschheitsgeschichte eingetreten.
Lesen Sie eine Besprechung dieses Buches auf Seite 28.
    