Johannsen: Wenn man ein Bild vom Mitmenschen hat, das religiös unterfüttert ist, dann ist das sicherlich eine gute Basis für ein friedliches Zusammenleben.
Auf der anderen Seite liegt ohne Frage eine Gefahr darin, wenn die Bücher, die Religionen zu Grunde liegen, also die Bibel oder der Koran oder die Torah, wenn die so ausgelegt werden, als wenn sie den Gläubigen berechtigten gegen Ungläubige zu kämpfen. Das liegt nicht in der Religion als solcher begründet, sondern in den Interpretationen, die diejenigen daraus ziehen, die damit Politik machen wollen.
Herold: Auf einer Konferenz vor einem viertel Jahr hielt ein Filmemacher eine Ansprache, der mit Robert McNamara einen Film gemacht hat. Es war absolut beeindruckend, wie dieser Regisseur es geschafft hat, McNamara über Vietnam zum Sprechen zu bringen. McNamara hat z. B. die Offenheit und den Mut gefunden zu sagen, dass wenn die USA den Krieg verloren hätten, dann wäre er ein Kriegsverbrecher gewesen.
Johannsen: Ja, es gibt wenige, aber es gibt immer einige, die nachher, wenn sie nicht mehr im Amt sind, diese Einsichten zeigen. Die Entwicklung von diesem Mann ist schon beeindruckend.
Herold: Was, meinen Sie, bewirkt so einen Gesinnungswandel?
Johannsen: Ich glaube, dass so eine Selbstkritik, wie bei Robert McNamara, der seine eigene Rolle im Vietnamkrieg kritisiert hat, den Menschen Mut macht, ihre eigenen Standards zu finden und zu ihnen zu stehen.
Herold: Wo, meinen Sie, kommen diese Standards denn her?
Johannsen: Das ist bei den Menschen unterschiedlich. In früheren Jahrhunderten waren es sicherlich christliche Werte. Im Zeitalter der Säkularisierung in Europa sind es vor allem die Werte, die aus dem Humanismus kommen: die Achtung des Mitmenschen, das ist ja ein Wert des menschlichen Lebens, der sowohl dem Christentum als auch dem Humanismus anhaftet.
Herold: Ihre Mutter hat das einfach als „Anständigkeit” bezeichnet.
Johannsen: Ja, meine Mutter hat mir das so berichtet. Sie ist in ihrem Elternhaus zu Achtung und Respekt vor dem erzogen worden, was man auch als bürgerliche Werte im Sinne einer humanen Gesellschaft bezeichnet.
Sie hat keine religiöse Erziehung genossen, es war eher eine Erziehung zu respektvollem Umgang mit den Mitmenschen, zu Rücksichtsnahme, zu Aufrichtigkeit. Später hat sie dann diese Werte auch in biblischen Texten entdeckt. In der Bibel befinden sich viele, viele Texte, die erstens sehr viel Tiefgang haben und die dann auch sehr poetisch sind. Und beides hat meine Mutter angesprochen.
Herold: Schwingen in Ihrer Arbeit heute diese Werte Ihrer Mutter noch mit? Oder haben Sie inzwischen Ihre eigenen Werte entwickelt?
Johannsen: Ich habe einerseits solche Werte wie Mitgefühl, Verantwortungsbewusstsein, Gewissenhaftigkeit. Das sind Werte, die mir in der Erziehung nahe gebracht worden sind und die ich bei mir entdecke.
Ich bin manchmal nicht so leicht für meine Mitmenschen, weil ich oft fordere, dass bestimmte Prinzipien eingehalten werden. Da verbinden sich einerseits humane Werte und ein wissenschaftlicher Standard.
Das Zweite ist, dass ich mich dafür interessiere, jungen Leuten die Welt näher zu bringen, wenn ich das mal so sagen darf.
Gerade heute habe ich bei einer Theateraufführung zugesagt, wo Schüler, die auch viele ausländische Bürger in ihren Reihen haben, ein Stück aufführen, das in Israel spielt und wo zwei arabische Israelis in einer Familie — zwei Brüder — miteinander in einen Konflikt geraten. Der eine paktiert mit der israelischen Armee und der andere paktiert mit den militanten Palästinensern und die beiden geraten deshalb in einen Beziehungskonflikt.
Ich bin eingeladen worden, bei der Diskussion hinterher als Expertin für diesen Konflikt Rede und Antwort zu stehen. Und obwohl ich zur Zeit furchtbar viel zu tun habe, habe ich sofort zugesagt, weil ich das sehr spannend finde, mit ihnen zu diskutieren, damit sie nicht glauben, dass das ein unlösbarer Konflikt ist. Das glaube ich nicht. Und wenn Kinder und Jugendliche erst einmal glauben, dass Konflikte unlösbar sind, dann ist das eigentlich der Anfang vom Ende der Bemühungen um den Frieden. Und darum gehe ich zu so etwas auch hin. Das finde ich ein sehr tolles Projekt.
Herold: Sie haben im ersten Teil unseres Gesprächs gesagt, dass man an die Menschlichkeit in anderen appellieren kann. Ist das nicht überhaupt die Grundlage, um Konflikte dauerhaft zu beseitigen?
Johannsen: Ja, das glaube ich. Die Wahrnehmung des anderen als Mensch in seinem ganzen Wert, nämlich dass Gott ihn zu Seinem Bilde erschaffen hat, ist eigentlich Voraussetzung dafür, dass man mit Konflikten gewaltfrei umgeht. Wenn ein Mensch wie etwas angesehen wird, was nichts wert ist, was man wegwerfen kann, was man zerstören kann, dann ist auch keine Basis gegeben, um mit einem Konflikt gewaltfrei umzugehen.
Es gibt zum Beispiel eine Menschenrechtsorganisation in Israel, die heißt Bet Salam. Das ist hebräisch und heißt: nach Seinem Bilde. Diese Menschenrechtsorganisation sagt also, der Mensch sei von Gott nach dessen Bilde geschaffen worden. Und das ist die Voraussetzung dafür, Menschen wie einen Menschen zu behandeln und in seinen Rechten zu achten.
Das Recht des Menschen, in Frieden zu leben, ist eigentlich darin begründet, dass er als Mensch akzeptiert wird.
Herold: Wie kann dieses Menschenbild auf Menschen, wie zum Beispiel Osama Bin Laden oder Hussein angewendet werden, wo der eine oder andere sagen wird: Da fällt es mir schwer, denen die Menschenwürde zuzugestehen.
Johannsen: Ja, das muss ich zugeben, da fällt es mir auch schwer, gegenüber solchen Despoten oder Super-Terroristen die andere Wange hinzuhalten. Das geht auch nicht, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass man sie gewähren lässt. Man muss ihnen in den Arm fallen.
Das bedeutet aber trotzdem nicht, dass man im Umgang mit ihnen alle Regeln außer Kraft setzen darf. Wenn man in einem Extremfall Folter erlaubt, dann brechen schnell die Dämme. Bestimmte Regeln des Umgangs müssen auch mit solchen Superbösen einfach eingehalten werden. Man sollte wissen, dass es sogar im Umgang mit solchen Despoten oder Terroristen Regeln gibt. Genauso wie es im Kriegsvölkerrecht gilt. Es fällt schwer, so etwas zu akzeptieren und trotzdem finde ich, dass das ein ganz wichtiges Prinzip ist, dass man nicht Ausnahmen zulässt. Man muss seine eigenen Handlungsweisen an Maßstäben ausrichten und die hochhalten.
Herold: Sie sagten vorhin, dass sie auch zunehmend die Bedeutung von Religiösität oder Spiritualität in Bezug auf das Menschenbild sehen. Wie sehen Sie heute in Ihrem sicherlich doch oft politisch geprägtem Tag diese Komponente der Spiritualität?
Johannsen: Ich persönlich erfahre das eigentlich dann, wenn ich Musik singe. Ich singe in einem Chor und in diesem Chor gibt es häufig Stücke, die christliche Inhalte zum Gegenstand haben. In dieser musischen Tätigkeit, die ganz andere Schichten des Menschen betreffen, erfahre ich so etwas.
Ich erfahre auch, dass mir diese beiden Seiten gut tun. Einerseits der Intellekt, andererseits die Seele, die von der Musik angerührt wird. Das vervollständigt mich. So empfinde ich das. Das ist auch der Grund, warum ich immer so gerne mit meiner Mutter zusammengearbeitet habe. Das hat mich sehr befriedigt. Dadurch fühle ich mich „ganzer”, als wenn ich nur die wissenschaftliche Arbeit betreiben würde.