Seit Menschengedenken zeigt sich eine Beziehung zwischen Spiritualität und Heilen. David Hufford, Professor für Medizingeschichte, befasst sich mit diesem Phänomen und den intellektuellen Grundlagen, auf denen die Anschauungen über Spiritualität und Gesundheit heute basieren.
Die neue protestantische Theologie des 18. Jahrhunderts (insbesondere der Calvinismus) hatte mit ihrer Reaktion auf den mittelalterlichen Missbrauch der Idee von Wundern den Boden für aufklärerische Ideen über die Religion vorbereitet. Der Skeptizismus der Aufklärung, der sich auf Ideen von rein materieller Kausalität gründete, übte dann großen Druck auf die Religion aus, überhaupt keine Behauptungen über die Welt mehr abzugeben. Als diese Ideen sich weiterentwickelten, trennten sie den Körper weiter von der Seele und dann die Seele vom Geist und trieben den Protestantismus und andere Religionen dazu, diese Unterscheidungen ebenfalls zu verschärfen.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts machte die westliche Medizin gemeinsame Sache mit der rapide voranschreitenden Wissenschaft. Wie der Skeptizismus der Aufklärung vor ihnen, zogen die meisten Mediziner, die diesen immer mehr spezialisierten Beruf ausübten, bewusst eine Trennungslinie zwischen ihrem Beruf und der Religion. Das heißt nun nicht, dass alle Ärzte sich von der Religion abwandten — ganz und gar nicht. Doch es wurde die Ansicht vertreten, dass die Religion in der medizinischen Wissenschaft fehl am Platze war. Ja, der menschliche Körper wurde nicht als eine organische, spirituelle Schöpfung angesehen, sondern als ein materielles, mechanisches System. Alle Lebenserscheinungen wurden in die Materie hineingezwängt und Geist wurde ins Leben nach dem Tode verbannt.
Gegenbewegungen im 19. Jahrhundert
Neben diesen Entwicklungen in den Wissenschaften, der Medizin, Philosophie und Theologie gab es andere Gegenbewegungen, die weiter an Boden gewannen. Zum einen ließ das Interesse an der Religion nicht nach, sondern verstärkte sich mit der Reformation, in deren Gefolge sich protestantische Gruppen wie etwa die Lutheraner und Quäker bildeten. Die ersten englischen Siedler im zukünftigen Gebiet der Vereinigten Staaten waren Puritaner, die die anglikanische Kirche „reinigen" wollten. Doch danach kamen neue religiöse Anschauungen auf, die zur pluralistischen Gesellschaft in der Neuen Welt beitrugen. Die später beginnende zweite große Erweckung (Great Awakening) — die amerikanische religiöse Erneuerungsbewegung im frühen 19. Jahrhundert — trat für selbstständiges Denken und ein persönliches religiöses Erleben ein. Viele spirituelle Bewegungen im späteren 19. Jahrhundert, wie der in Neuengland heimische Transzendentalismus von Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau, machen deutlich, in welchem Ausmaß der Samen der Religionsfreiheit und des religiösen Eifers in immer neuen theologischen Richtungen außerhalb der herkömmlichen Konfessionen aufging.
Dieses Interesse des Durchschnittsbürgers an der Religion und an spirituellem Heilen ging mit anderen bedeutenden Bewegungen einher, die Vorstellungen über das Heilen vertraten, bei denen der Körper nicht als eine Maschine angesehen wurde. Die beständige, feste Position amerikanischer Religionen gegenüber den materialistischen Tendenzen in der Medizin basieren auf der demokratischen und pluralistischen Tradition in der Religion und im Heilen, die im 19. Jahrhundert klar hervortrat. Damals enstanden eine Vielzahl von Heilmethoden, darunter der Mesmerismus und Heilmagnetismus, dann die Homöopathie, New Thought, Christian Science und die Chiropraktik (letztere wies zu dieser Zeit mehr spirituelle Grundzüge auf). Diese Systeme behaupteten sich gegen den reduktiven Materialismus, der das Sein auf die Materie zurückführte und in der herkömmlichen Medizin zur Norm geworden war.
Alle diese Systeme gründeten sich beim Praktizieren des Heilens auf die Existenz von unsichtbaren Kräften, die eine einzigartige Wechselbeziehung zum lebenden Organismus haben. Die Intellektuellen taten die Religion, die zu dieser Zeit eine Vorrangstellung einnahm, als nebensächlich ab. Doch das breite Interesse an diesen Heilmethoden und die Nachfrage nach ihnen zeigt, dass sich die Menschen ganz allgemein gegen den Materialismus in der Medizin wandten, da sie überzeugt waren, dass die empirische Welt der Sinne nicht alles über das Leben, über Krankheit und Heilung aussagt.
In diesem historischen Kontext trat Christian Science auf den Plan. In ihrer Lehrtätigkeit und ihrem Buch Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift entwickelte die Gründerin Mary Baker Eddy ein umfassendes systematisches System der Metaphysik. Sie kam zu der Erkenntnis, dass der Reduktionismus in beiden Richtungen angewandt werden kann, und so wirkte sie der Tendenz zum Materialismus entgegen, indem sie uneingeschränkt für die Vorherrschaft des Geistes eintrat (Geist war hier für sie gleichbedeutend mit Gott) und somit die sich weitende Kluft zwischen Seele, Körper und Geist beseitigte. Das Kernstück dieser Innovation ist ihre Verwendung der Wörter Gemüt und Prinzip und deren Beziehung zum Körper. Im Vorwort zu Wissenschaft und Gesundheit schreibt sie:
Das physische Heilen
durch Christian Science ist
heute, wie zur Zeit Jesu, das
Ergebnis der Tätigkeit des
göttlichen Prinzips, vor der
Sünde und Krankheit ihre
Wirklichkeit im menschlichen
Bewusstsein verlieren
und so natürlich und
unvermeidlich verschwinden,
wie Dunkelheit dem
Licht und Sünde der Umwandlung
Raum gibt. Heute
wie damals sind diese
mächtigen Werke nicht
übernatürlich, sondern im
höchsten Grade natürlich.
(S. xi)
Mit sorgfältig gewählten Worten erklärt Eddy, dass spirituelle Kausalität die Quelle wahrnehmbarer Auswirkungen im menschlichen Leben ist. Und Heilen in Christian Science ist nicht „Gesundbeten", das durch die unerschütterliche Gewissheit zustande kommt, dass Gott uns mit Hilfe von Wundern unsere Bitte erfüllt. Es ist vielmehr das Verständnis, dass die spirituelle Welt die höchste und daher gegenwärtige Realität des Seins ist.
Versuche im 20. Jahrhundert, Spiritualität und Heilen wilder zu vereinen
Nach dem großen Erfolg und der Popularität von Christian Science und anderen spirituellen Heilmethoden gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden im 20. Jahrhundert Experimente angestellt, die darauf abzielten, die Medizin mithilfe der sich langsam Bahn brechenden Psychologie mit der Religion zu verquicken. 1906 plädierte der bekannte Bostoner Neurologe Richard Cabot dafür, Geisteskrankheiten ohne Chirurgie, Medikamente oder andere materielle Mittel zu behandeln. Diese Behandlungsmethode wurde unter dem Namen Psychotherapie bekannt. Als Verfechter dieser Methode musste sich Cabot von anderen mentalen Heilungsmethoden distanzieren und erklärte daher 1908:
Psychotherapie ist ein
ganz furchtbares Wort, doch
müssen wir es gebrauchen,
weil es kein anderes gibt,
das uns von den Christian
Scientisten, den New-
Thought-Leuten [und] den
Gesundbetern unterscheidet ... R. C. Cabot: „The American Type of Psychotherapy", Psychotherapy: A Course Reading in Sound Psychology, Sound Medicine, and Sound Religion (1908), S. 1. Zitat aus E. Caplans Mind Games: American Culture and the Birth of Psychotherapy (1998), S. 4.
Cabot tat sich mit einer Gruppe von Pfarrern und Ärzten zusammen und gründete die Emmanuel-Bewegung, die ihren Namen von der episkopalischen Emmanuel-Kirche in Boston herleitete. Diese außerordentlich erfolgreiche, jedoch kurzlebige Bewegung hatte den Zweck, zwischen bestimmten spirituellen Heilern — an der Psychotherapie interessierten Pfarrern — und Ärzten eine Partnerschaft herzustellen und somit eine Methode zu schaffen, die der körperlichen, mentalen und spirituellen Gesundheit dienen sollte. Der Unterschied zwischen den Heilern, mit denen Cabot sich zusammentun wollte, und denen, die er missbilligte, bestand in der Frage über die spirituelle Kausalität und die Beziehung zwischen Geist und Körper. In der Emmanuel-Bewegung sollten Patienten zuerst von einem Arzt untersucht werden. Körperliche Leiden sollten dann vom Arzt behandelt und seelische Störungen zur psychotherapeutischen Behandlung an die Pfarrer weitergegeben werden. Die von den Pfarrern in der Bewegung angestrebten spirituellen Veränderungen sollten als psychologisch angesehen werden, und daher gab es für spirituelle Kausalität keinen Raum.
Die Emmanuel-Bewegung verschwand jedoch innerhalb weniger Jahre, Historiker Eric Caplan zufolge wurde die Bewegung nach 1910 in den Zeitschriften „mit einem Mal" nicht mehr erwähnt, während das davor häufig geschah. Caplan: Mind Games, S. 148. Caplan zitiert J. G. Greene: „The Emmanuel Movement, 1906-1929", New England Quarterly 7 (1934), S. 525. denn die meisten Pfarrer, die an ihrer Gründung beteiligt gewesen waren, wandten sich von ihr ab und die Kirchen und die Ärzteschaft opponierten heftig gegen sie. Auch die Ärzte, die bei ihrem Aufbau mitgeholfen hatten, behaupteten jetzt, dass diese neue Methode mentalen Heilens nur von einem Arzt praktiziert werden kann. Diese Ärzte vertraten die Ansicht, dass echtes mentales Heilen eine ärztliche Ausbildung erfordert und mit Religion nichts zu tun hat. Die Skepsis der Ärzte drängte das spirituelle Heilen im 20. Jahrhundert an den Rand der amerikanischen Gesellschaft.
Die Dauerhaftigkeit spiritueller Intuitionen
Im 20. Jahrhundert verzeichnete die Medizin in der Behandlung von geistigen und körperlichen Krankheiten bemerkenswerte Erfolge. Die abendländische Religion schien sich mehr und mehr von herkömmlichen Anschauungen über die Wechselwirkung zwischen dem materiellen und spirituellen Bereich zu entfernen und sogar die Idee von einem nichtmateriellen Geist ganz aufzugeben. Wie wir jedoch schon festgestellt haben, gab es in der amerikanischen Bevölkerung eine konstante Unterströmung, die nicht von der Einheit von Seele, Körper und Geist abließ.
Daher ist das erneute Verbinden von Spiritualität und Heilen, das in den vergangenen Jahrzehnten zutage getreten ist, nicht einfach eine Modeerscheinung, wie von manchen behauptet wird.
Nach dem Zweiten Weltkrieg trug in den Vereinigten Staaten die Neo-Pfingstund die charismatische Bewegung im Christentum dazu bei, dem Glauben an eine spirituelle Kausalität neues Leben zu geben durch das Sprechen in Zungen, Weissagen und insbesondere spirituelles Heilen. Gleichzeitig begannen die Religionen in aller Welt die modernen Auffassungen zu hinterfragen, was alles Mögliche zur Folge hatte. Neue Erkenntnisse in Philosophie, Geschichte und anderen akademischen Wissenszweigen führten dazu, dass die materialistischen Skeptiker mit ihrem eigenen Skeptizismus konfrontiert wurden und der Wissenschaft das Recht streitig gemacht wurde, alles Leben erklären und alle Probleme lösen zu wollen.
Auch die Medizin sah sich mit allen ihren schon lange für tot geglaubten Konkurrenten aus dem 19. Jahrhundert konfrontiert, wie auch mit einer Vielzahl von neuen Konkurrenten aus anderen Kulturen in der Welt. Das geschah zu einer Zeit, als sich Krankheiten trotz erstaunlicher Neuerungen in der Medizintechnologie als komplexer und hartnäckiger erwiesen, als es noch zwei Jahrzehnte zuvor geschienen hatte.
Wie schon im 19. Jahrhundert hatten die Methoden der komplementären und alternativen Medizin eines gemeinsam, nämlich eine gewisse spirituelle Grundlage. Und wenn sich die herkömmliche Medizin auch vielen radikalen Ideen in der alternativen Medizin widersetzt, so versucht sie jetzt doch, auf Verlangen der Patienten eine spirituelle Komponente zurückzugewinnen. Viele dieser Bestrebungen ähneln der Emmanuel-Bewegung mit ihrer Unterscheidung zwischen Körper, Seele und Geist, doch andere gehen weit darüber hinaus. Unter anderem stellen sie stichprobenartige und kontrollierte Untersuchungen über das Gebet an und berichten davon in medizinischen Fachzeitschriften; auch werden spirituelle Heiler verschiedener Art in Gesundheitsfürsorge-Teams aufgenommen.
Und dann wurde sogar die Physik nach Einstein und in ihrer relativistischen Form als ein Argument gegen den Materialismus ins Feld geführt. Diese Entwicklungen bilden eine faszinierende und komplexe Geschichte, mit vielem Für und Wider, was wir hier nicht im Einzelnen verfolgen können. Doch im Zusammenhang mit den hier erwähnten Entwicklungen ist klar, dass die Geschichte der modernen Erkenntnisse nicht einfach die Evolution des Denkens von einer spirituellen zu einer materialistischen Grundlage ist, die sich mithilfe der Wissenschaft vollzogen hat. Im Denken vieler, vieler Menschen waren Spiritualität und Materialität — Seele, Körper, Geist — niemals getrennt. Daher ist das erneute Verbinden von Spiritualität und Heilen, das in den vergangenen Jahrzehnten zutage getreten ist, nicht einfach eine Modeerscheinung, wie von manchen behauptet wird. Vielmehr ist es die Geschichte des Menschen, der das gewaltige und unendlich komplexe Universum, in dem er sich befindet, zu verstehen und die Vollkommenheit zu erlangen sucht, die ihm durch göttliche Intuitionen zu allen Zeiten verheißen worden ist.
Heute wie auch vor 2000 oder 4000 Jahren ist Spiritualität ein Grundbestandteil dieser Suche.
