»Wenn du einen bestimmten Dienstgrad brauchst, damit andere deinen Anweisungen folgen, bist du keine wahre Führungskraft«, sagte mir mein Chef. Ich war eine junge Geschäftsfrau, die darum kämpfte, sich einen Platz in einem rein männlich geprägten Umfeld zu erobern. Konfrontiert mit offener Feindseligkeit seitens meiner männlichen Kollegen und an der Grenze zu sexueller Belästigung durch Untergebene, hoffte ich, ein Titel würde mich retten wie damals Lady Marian in der Geschichte von Robin Hood.
Aber mein Chef unternahm nichts dergleichen. Vielleicht wusste er, dass es Besseres gab, als mich der Möglichkeit zu berauben, echte Führungsqualitäten zu entwickeln. Statt dessen gab er mir einfache Ratschläge. »Menschen folgen dem Erfolg«, sagte er. »Leisten Sie gute Arbeit. So helfen Sie anderen in ihrer Arbeit erfolgreich zu sein.«
»Ein Führer ist jemand, der mehr sieht als andere sehen, der weiter sieht als andere sehen und der hinsieht, bevor andere handeln«
Seine Bemerkungen erinnerten mich daran, was Jesus sagte: »Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen« (Joh 12:32). Jesu Erfolg, Krankheit zu heilen und andere aufzurichten, zog ganze Menschenmassen an. Die Evangelien sprechen viel über einen inneren Kreis von zwölf Jüngern, die Jesus fast überall hin folgten. Und doch gab es weitere Hunderte, wenn nicht Tausende, die zu Jesus kamen, um geheilt zu werden und um mehr über Spiritualität und das ewige Leben zu erfahren. — Als ich tiefer über Jesu unvergleichliche Führungseigenschaften nachdachte, schien es mir, als ob diese Menschenmenge Jesus aus zwei Gründen folgte:
1) Er war erfolgreich. Jesus demonstrierte die göttliche Kraft zu heilen und zu retten, und die Menschen sehnten sich danach, diese Christuskraft in ihrem Leben zu empfinden.
2) Jesus konnte anderen wirkungsvoll dabei helfen, mehr Spiritualität in ihr Leben zu bringen. Er hatte die Fähigkeit, seinen Mitmenschen spirituelle Ideen in einfacher Form zu vermitteln, so dass sie sie verstehen konnten. Und Jesus war ein derart erfolgreicher Führer, dass 2000 Jahre nachdem er predigte, lehrte und heilte, immer noch Millionen von Menschen ihm folgen.
Ich bin mir nicht sicher, ob mein Chef ausgerechnet an Jesus als Vorbild in Sachen Führungsqualitäten für eine junge weibliche leitende Angestellte dachte. Aber ich kann mir keinen besseren Mentor vorstellen als ihn, um Führungsqualitäten zu entwickeln.
Gottes Führung zu suchen lindert die Last der Verantwortung und bringt Segen.
Die Idee ist nicht ungewöhnlich. Eine ganze Industrie ist in den letzten Jahren entstanden, die sich um die Frage dreht: Was würde Jesus tun? Bücher wurden geschrieben, Seminare durchgeführt und Predigten gehalten — alles um dem Einzelnen zu helfen, Jesu Lehren und seinem Beispiel zu folgen. Aber Jesu Nachfolger zu sein, bedeutet noch lange nicht, auch gleichzeitig wirkungsvolle Führungsarbeit zu leisten. — Was mir half, war die Umsetzung einiger Qualitäten, die Jesus während seiner Mission lehrte und anwandte. Es gibt viele Qualitäten, die man aufzählen könnte. Aber die folgenden sieben schienen mir die Wichtigsten: Urteilsvermögen, die Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen, eine praktische Einstellung, Beharrlichkeit, Furchtlosigkeit, Uneigennützigkeit und Selbstaufopferung.
Urteilsvermögen
In seinem Buch Sei der Führer, zu dem du geschaffen wurdest, schreibt Leroy Eims: »Ein Führer ist jemand, der mehr sieht als andere sehen, der weiter sieht als andere sehen und der hinsieht, bevor andere handeln« (zitiert aus John C. Maxwells Buch: »Die 21 unausweichlichen Gesetze des Führens«, Nashville, Tennessee, Thomas Nelson Verlag, 2002, S.39).
Jesus verkörperte dieses Zitat. Seine scharfe Wahrnehmung ließ ihn die Gedanken der ihn umgebenden Menschen erkennen und Ereignisse in der Zukunft voraussehen. Er konnte beten und sich auf Umstände vorbereiten, bevor sie eintrafen. Seine Urteilsfähigkeit hatte ihre Ursache in seiner Bereitschaft, auf das universale göttliche Gemüt zu hören. Und wenn Gott Wahrheit ist, bedeutet dies, dass dieses göttliche Gemüt jede wahre und richtige Idee kennt. Wenn man Gott, Gemüt, gegenüber feinfühliger wird, kann man als Individuum spontaner Lösungen für potenzielle Probleme erkennen.
Die Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen
Wenn es hart auf hart kommt, gibt ein Führer nicht auf. Das war es, was mein Chef mir vermitteln wollte. Ich musste Verantwortung übernehmen und mich weiter vorankämpfen bei dem, was ich für richtig hielt, und den anderen keine Vorwürfe machen oder hoffen, dass mein Chef die Arbeit für mich erledigen würde. Und Jesus lehrte auch den nächsten Schritt, nämlich dass Verantwortung übernehmen heißt, Gottes Willen zu tun. Er sagte: »Ich kann nichts von mir aus tun. ... denn ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat« (Joh 5:30). Wenn man merkt, dass Gott menschliche Hindernisse überwinden kann, wird es leichter, Herausforderungen mit Zuversicht zu begegnen. Gottes Führung zu suchen lindert die Last der Verantwortung und bringt Segen, weil man Gottes nicht-endende Fähigkeiten nutzt.
Ein Führer muss sich seinen Ängsten stellen und sie überwinden, bevor er anderen helfen kann.
Eine praktische Einstellung
Wahre Führer übersetzen Inspiration in praktische Lösungen. Mary Baker Eddy, eine treue Nachfolgerin der Lehren Jesu, die eine weltweit bekannte religiöse Führerin wurde, schrieb: »Gott gibt euch Seine geistigen Ideen, und sie wiederum geben euch, was ihr täglich braucht« (Vermischte Schriften, S. 307). Sie bewies das ihr Leben lang. Denselben geistigen Ideen, die Gott ihr gab, um das Buch Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift zu schreiben, vertraute sie bei ihrer Wohnungssuche, während sie an diesem Buch schrieb. Sie verließ sich zum Beispiel auf Gottes praktische Inspiration in der Arbeit mit ihrem Verleger. So liest man in ihrer Autobiografie: »Ich hatte ihm bereits siebenhundert Dollar gezahlt, und dennoch brach er die Arbeit an meinem Werk ab. Alle Bemühungen ihn zu überreden, mein Buch fertig zu drucken, waren vergebens.« Als Ergebnis ihres Gebets schrieb sie ein weiteres Kapitel. Die Folge davon war, dass der Drucker seine Arbeit abschloss und sie sich beide unvorhergesehen auf dem Bahnhof in Lynn begegneten. »Wir trafen uns auf dem Ostbahnhof in Lynn und waren beide überrascht – ich, als ich erfuhr, dass er das ganze ihm vorliegende Manuskript gedruckt hatte ... er, mich auf dem Wege nach Boston zu finden, um ihm das letzte Kapitel für meine erste Ausgabe von Wissenschaft und Gesundheit zu übergeben. Während dieser Vorgänge war zwischen uns kein Wort gewechselt worden, weder hörbar noch mental.« (Rückblick und Einblick, S.38) An der Inspiration festzuhalten, klärt oft die eigene Sichtweise, bis sich praktische Lösungen ergeben.
Beharrlichkeit
»Zwischen 1850 und 1860 führte Harriet Tubman mehr als dreihundert Menschen aus der Sklaverei ... Als der Bürgerkrieg begann, hatte sie mehr Menschen aus der Sklaverei geführt als jeder andere in der amerikanischen Geschichte, seien es Weiße oder Schwarze, Männer oder Frauen.« (Maxwell, S.78) Wahre Führer bleiben ihrem Auftrag treu. Eddy blieb ihrem Auftrag treu zu heilen, zu lehren und Wissenschaft und Gesundheit zu schreiben, so dass andere aus der Sklaverei von Krankheit und Sünde befreit werden konnten. Jesus blieb beharrlich und überwand sogar den Tod. Sein Sieg, zusammen mit dem unbeugsamen Geist von Frauen wie Harriet Tubman und Eddy, tragen weiter dazu bei, dass Menschen ihrer Mission und ihren Absichten treu bleiben. Eddys Buch Wissenschaft und Gesundheit bietet Einblicke in Gesundheit und Führungsqualitäten, die Menschen auf der ganzen Welt helfen, genau wie sie mir geholfen haben.
Anderen dabei zu helfen, ihre Ziele zu erreichen, zeichnet den langfristigen Führer aus.
Furchtlosigkeit
Ein Führer muss sich seinen Ängsten stellen und sie überwinden, bevor er oder sie anderen helfen kann. Ein möglicher Weg Furcht zu überwinden ist der, zu spüren, dass Handlungen in Übereinstimmung mit Gott stehen. Wie schon Petrus sagte: »Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?« (Römer 8:31) Wenn Menschen fühlen, dass sie im Gehorsam gegen Gottes Willen handeln, entwickeln sie eine innere Zuversicht und Stärke, die Mut zum Weitermachen gibt. Sicherlich befähigte die Überzeugung, ihr Buch sei göttlich inspiriert, Eddy dazu, unter schwierigsten Umständen furchtlos zu bleiben.
Uneigennützigkeit
J. Oswald Sanders schreibt in ihrem Buch Geistige Führerschaft: »Wahre Größe, wahre Führerschaft beruht darauf, sich in den Dienst seines Nächsten zu stellen, nicht, andere zu beschwatzen oder zu überreden, einem selbst zu dienen ... der wahre geistige Führer konzentriert sich auf den Dienst, den er oder sie Gott und anderen Leuten leisten kann und nicht auf die rückständigen und hochnäsigen Inhaber hoher Dienstgrade oder heiliger Titel.« (J. Oswald Sanders, Geistige Führerschaft: Prinzipien der Vortrefflichkeit für jeden Gläubigen, Chicago, Moody Press, 1994)
Anderen dabei zu helfen, ihre Ziele zu erreichen, zeichnet den langfristigen Führer aus. Menschen, die aus Eigennutz führen, mögen heute erfolgreich sein. Aber sie werden es schwer haben, Mitarbeiter zu finden, die ihnen auch morgen noch folgen.
Selbstaufopferung war der Eckstein von Jesu Karriere.
Selbstaufopferung
So unattraktiv es für das komfortorientierte 21. Jahrhundert auch scheinen mag: Selbstaufopferung war der Eckstein von Jesu Karriere. Ohne Selbstaufopferung würde Jesus nicht immer noch als Führer anerkannt werden, der es wert ist, ihm nachzustreben und ihm zu folgen. Ein Führer muss bereit sein, seine persönlichen Ansichten zum Wohle anderer zu opfern. Sonst wird er oder sie durch Ichbezogenheit und Stolz straucheln. Eddy fasste den Wert der Selbstaufopferung zusammen, als sie über ihr eigenes Leben sagte: »Ganz gleich, was ein anderer über dieses Thema sagen oder denken mag, ich spreche aus Erfahrung. Beten, Wachen und Arbeiten, verbunden mit Selbstaufopferung, sind Gottes gnadenreiche Mittel zur Vollendung alles dessen, was erfolgreich für die Christianisierung und Gesundheit der Menschheit getan worden ist« (Wissenschaft und Gesundheit, S.1).
Es kostete mich Monate, um mir auch nur einige der Führungseigenschaften anzueignen, die Jesus uns vorlebte. Und doch sind sie so mächtig, dass ich eines Tages feststellte, dass ich als Führungskraft von den Männern meiner Abteilung akzeptiert wurde, ohne einen Titel zu tragen. Alter, Geschlecht und Rasse waren nicht mehr ausschlaggebend. Für mich begann das Abenteuer, etwas über wahre Führerschaft zu lernen, ein Abenteuer, das noch nicht abgeschlossen ist – führen zu lernen nach Christi Jesu Vorbild.
