Geistiges Heilen ist vermutlich die geläufigste Form offener Heilpraxis in der Welt, inkl. der USA. Geistiges Heilen ist außerdem extrem mannigfaltig, es schließt Aberhunderte Ausprägungen von Hunderten von Religionen ein und reicht bis zu geistigen Praktiken, die keiner religiösen Organisation zugehören. Geistiges Heilen ist auch die Heilpraxis, über deren Funktionsweise wir am wenigsten wissen. Die meisten geistigen Heilpraktiken werden so beschrieben, dass Wissenschaftler sie nicht nachbilden oder gar von ihnen Notiz nehmen können. Wie können beaufsichtigte wissenschaftliche Studien, die die Wirksamkeit geistigen Heilens untersuchen, ohne dieses Mindestmaß einer Beschreibung stichhaltig oder glaubwürdig sein?
Wir wissen, dass geistiges Heilen manchmal Entscheidungen in der medizinischen Gesundheitsfürsorge beeinflusst und dass viele Menschen geistige Sachverhalte bei relevanten Fragen ihrer Gesundheitsplanung einbezogen haben möchten. Aber wir wissen praktisch nichts darüber, wie weit geistige Sachverhalte Entscheidungen beeinflussen. Patienten berichten, dass ihr Interesse an oder im Umgang mit Spiritualität im Gespräch mit ihren Ärzten fast nie Beachtung gefunden hat. Wenn, wie oben erwähnt, die Allgemeingültigkeit geistigen Heilens vorausgesetzt wird, wird deutlich, dass einige geistige Heilpraktiken eine medizinisch messbare Auswirkung haben (z.B. ist die Wirkung von Meditation, Stress zu reduzieren, unumstritten) und es ist auch klar, dass einige geistige Heilpraktiken nie einer Untersuchung unterzogen wurden, welche für oder gegen ihre Wirksamkeit sprechen würde.
Die »Kartographie« — also das Erstellen einer repräsentativen Skizze der Hauptcharakteristika — der medizinischen Gesundheitsfürsorge und der gesundheitlichen Anwendungen ist in den USA gut entwickelt. Vom Planen der Behandlung und der Versicherungssysteme bis hin zur Entwicklung von Verfahren und zu epidemiologischen Studien, braucht jede Kartographie die Kenntnis spezieller involvierter Angebote und Praktiken. Zum Beispiel wäre es wenig hilfreich, die Anzahl von Ärzten und Krankenschwestern in einem Gebiet zu wissen, ohne die Information über Spezialgebiete, Typen von Kliniken, Krankenhäusern und Pflegestufen zu haben. Die Kosten der Leistungen und Verfahren sind ebenfalls ein wesentlicher Teil der Kartographie medizinischer Gesundheitsfürsorge.
Hinsichtlich geistiger Gesundheitsfürsorge muss eine einheitliche Kartographie inhaltliche Analysen beinhalten: die Vielfalt von Pflege und Anwendungen; die Ausbildung und Akkreditierung von Praktikern; Kosten; Ausbreitung von Pflege und Anwendung sowohl geographisch wie auch bevölkerungspolitisch. Doch die systematische Untersuchung dieser Variablen, wohl bedeutsam und zweifellos maßgebend für die Kartographie der geistigen Gesundheitsfürsorge, wird den Erfolg nicht garantieren. Gleich wichtig sind ein klares begriffliches Verständnis von geistigem Heilen wie auch eine einheitliche Sprache, um geistige Heilpraktiken, Methoden der Arbeitsweise sowie Ergebnisse zu erörtern.
Klares begriffliches Verständnis geistigen Heilens
Geistige Heilpraktiken bestehen in einer großen Formenvielfalt. In den USA gibt es heutzutage diesbezüglich bei Forschern zwei grundsätzliche Betrachtungsweisen:
• Eine Gruppe von Forschern neigt zu den religiösen Hauptgruppierungen: zu Spiritualität in institutionalisierter Form und zu einem Blick auf das geistige Heilen, welcher eher auf sozialen und psychologischen Mechanismen beruht als auf spiritueller Ursächlichkeit. Aus dieser Perspektive spiegelt der Glaube an spirituelle Ursächlichkeit (gemeint ist, dass das Geistige eine Wirkung auf das Materielle haben kann) ein altmodisches und naives Missverständnis psychologischer und neurophysischer Mechanismen von Seiten des Gläubigen wider (z.B. die Interpretation des Placebo-Effektes als göttliches Eingreifen). Tendenziell gewinnt auf dem Gebiet von »Spiritualität und Gesundheit«, wo religiöser Glaube und religiöse Praxis sich auf verschiedene Gesundheitszustände beziehen, diese Ansicht die Oberhand (z.B. Studien, die aufzeigen, dass Menschen, die in die Kirche gehen, wahrscheinlich länger leben).
• Die andere Gruppe bilden jene, die das Gewicht eher auf eine größere Bandbreite von nicht-westlichen und außerinstitutionellen geistigen Heilpraktiken legen und für die Vielfalt unkonventioneller, transzendentaler Mechanismen offen sind. Ein Beispiel dafür wären Studien über die Wirksamkeit von Gebet, in welchen die Patienten nicht wissen, dass für sie gebetet wird.
Die Muster dieser beiden Herangehensweisen sowie deren Unterschiede können ganz leicht verstanden werden, wenn man miteinander vergleicht, wie »geistiges Heilen« in zwei Büchern über Komplementärund Alternativ-Medizin (kurz: KAM) behandelt wird. Dieses Beispiel illustriert zusätzlich, dass eine der Karten, die für das Verständnis von geistigem Heilen nötig ist, eine begriffliche Karte der Literatur selbst ist.
Das eine Buch heißt Essentials of Complementary and Alternative Medicine (Das Wesentliche der Komplementärund Alternativ-Medizin), das Wayne Jonas und Jeffrey Levin 1999 herausbrachten. Das andere ist Donald Novey's The Clinician's Complete Guide to Complementary/Alternative Medicine (Vollständiger Führer zu Komplementär- und Alternativ-Medizin für Kliniker) von 2000. Beide sind namhafte Bücher, von anerkannten Experten sorgfältig zusammengestellt. Die Herausgeber beider Bücher betrachten geistiges Heilen sehr deutlich als einen wichtigen Aspekt von KAM. Und doch sind die Ansichten über geistiges Heilen sehr unterschiedlich, so dass sehr unterschiedliche Karten dabei herauskämen.
Jedes Buch hat Kapitel, die eine Vielzahl von Heiltraditionen mit geistigen Hauptelementen beschreiben, wie Yoga und Reiki (Novey) oder Indianische Medizin und achtsame Meditation (Jonas und Levin). Zusätzlich befindet sich in Novey's Buch ein Kapitel überschrieben mit »Geistiges Heilen und Gebet« von dem Psychiater Harold Koenig, M.D., und in Jonas und Levin's Buch eines über »Geistiges Heilen« von dem Psychiater Dan Benor, M.D. Interessanterweise führt Novey in seinem umfassenden Index nur Koenigs Kapitel unter dem Begriff »geistig« auf, wo doch das Buch noch vierzehn andere Auffassungen beinhaltet, die geistige Begriffe benutzen, um ihre Praktiken zu beschreiben. Jonas und Levin's Buch hat ebenfalls einen umfassenden Index (20 Seiten lang), doch unter den 38 Einträgen für »Geistiges Heilen« verweisen alle außer einem auf Benor's Kapitel, obwohl sieben der 20 Buchkapitel speziell den Herangehensweisen der KAM gewidmet sind, welche geistige Aspekte einbezieht.
Die Mannigfaltigkeit geistiger Heilpraxis — und die in beiden Büchern enthaltene Information über geistiges Heilen — verschwindet im Wesentlichen hinter der Struktur und dem Aufbau der Bücher. Ein Vergleich des Inhalts der beiden unterschiedlichen Kapitel über geistiges Heilen offenbart eine noch größere Unvereinbarkeit. Zum Beispiel ist Koenig's Kapitel konventionellem religiösen Heilen mit konventionellen psychologischen Begriffen gewidmet. Er merkt an, dass die Herangehensweisen geistigen Heilens »wahrscheinlich durch einen mind-body Effekt wirken« (S. 131). Benor auf der anderen Seite konzentriert sich auf subtile Energien und übergeht konventionelle Religion gänzlich. Statt dessen betrachtet er »geistige-aber-nicht-religiöse« Herangehensweisen und unkonventionelle medizinische Theorien des Vorgangs. (Keines der Bücher erwähnt Christian Science oder Mary Baker Eddy.)
Sprache und Kartographie geistigen Heilens
Die Sprache medizinischer Gesundheitsfürsorge ist sehr komplex und technisch. Aber wir wissen mit ziemlicher Genauigkeit die Bedeutung eines jeden verwendeten Begriffes. Es gibt tatsächlich sogar Wörterbücher über medizinischen Jargon. Im Gegensatz dazu ist die Sprache von Geistigkeit und von geistigem Heilen mindestens genauso komplex und mannigfaltig, doch weit weniger erforscht — und kaum etabliert.
Der Mangel einer klaren und standardisierten Terminologie geistigen Heilens resultiert aus einem subtilen Chaos und dem Fehlen von Engagement — einer Tendenz, aneinander vorbeizureden. Genau das sehen wir in den beiden eben erwähnten wichtigen Büchern. Jeder Autor eines Kapitels schließt in den Begriff »geistiges Heilen« die Formen ein, die in seine eigenen Werte und Erklärungs-Rahmen passen, so dass jeder eine andere implizierte Definition des Begriffs anbietet. Doch die Bedeutung von »geistigem Heilen«, wie auch die jeder anderen Gruppe von Heilpraktiken, sollte nicht davon abhängen, ob wir die darin enthaltene Anschauung teilen.
Das Studium geistigen Heilens und die wunderbare Vielfalt menschlicher Gesundheitspraktiken im Allgemeinen sollten gelehrt und wissenschaftlich sein, aber nicht als Norm dienen. Die unausgesprochene persönliche Verpflichtung der Forscher und Autoren produziert eine überwältigende Voreingenommenheit in der Forschung. Aber die schlimmste Konsequenz ist die, dass diese Voreingenommenheit stark einschränkend wirkt. Sie hat nicht nur Einfluss auf die Art der Untersuchung, sie verhüllt und verbirgt vieles von dem, was noch ermittelt werden soll. Die umfassenden und sehr gegensätzlichen Kategorien von Koenig und Benor repräsentieren zwei Haupttrends im Studium geistigen Heilens, indem sie denselben Begriff in Bezug auf fast gänzlich unterschiedliche Praktiken und Anschauungen beschreiben. Doch darüber hinaus stellt jeder von ihnen diese Gruppe falsch dar, indem sie unvereinbare Arten der Erklärung an spezielle Arten der Praxis anpassen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass konventionelle und übersinnliche Mechanismen nicht nebeneinander bestehen können.
Zusammengenommen lassen beide Kapitel außerdem eine sehr große Sparte geistiger Heilpraktiken aus — jene, die religiös, aber nachdrücklich geistige Ursächlichkeit geltend machen, wie charismatisches und christliches Heilen der Pfingstgemeinde oder wie geistige Heilpraktiken des Islam. Entsprechend fokussieren sich in Amerika Auseinandersetzungen mit buddhistischem Heilen auf Meditation und übergehen Praktiken, die Hingabe, Opferstätten und Karma einschließen. Die Beispiele des Islam und Buddhismus sind ein weiterer Hinweis darauf, dass die Literatur über kulturelle Vielfalt in der Medizin eine umfangreiche Auseinandersetzung mit traditionellen Heilpraktiken verschiedener ethnischer Gruppen beinhaltet, von denen praktisch alle bedeutende geistige Komponenten haben. Diese Literatur und die der KAM haben jedoch kaum Berührungspunkte, auch wenn die Standarddefinition des Nationalen Instituts für Gesundheit über die Praxis von KAM auf alle geistigen Praktiken zutrifft, die sich Gesundheit als Ziel gesetzt haben.
Was ist Vonnöten?
Um eine solide und exakte Karte zu erstellen, ist es notwendig, die Verschiedenheiten geistigen Heilens so zu untersuchen, so dass Glauben und Praktiken derjenigen exakt widergespiegelt werden, die deren verschiedene Formen nutzen. Die Theorien über den Mechanismus und die Maßstäbe, die einige Arten geistigen Heilens ins Abseits stellen und andere aufwerten, müssen beiseite gelassen werden. Und die Praktiken als solche werden in einer Weise eingehend behandelt werden müssen, dass sie sich dem Verhalten und dem Verständnis — um es noch einmal zu sagen — derjenigen anpassen, die sich dieser beschriebenen Formen des geistigen Heilens bedienen. Von dieser Beschreibung eingeschlossen, aber nicht darauf beschränkt werden: die Verschiedenartigkeiten der Praktiken (z.B. gibt es bei Yoga viele Variationen, Reiki hat zwei Hauptrichtungen, christliches Heilen variiert sowohl zwischen als auch innerhalb der konfessionellen Traditionen); die Ausbildung und Anerkennung von Praktikern (wenn es denn Praktiker gibt, da viele Arten der Selbstbehandlung dienen); die Rolle des Praktikers (Lehrer, Kanal für Heilungs-Energie, Mittler zu Gott); die Bedingungen, welche die Tradition anerkennt (die möglicherweise keine Kategorien der medizinischen Krankheitsklassifizierung sind); Prioritäten der Ergebnisse (ist mit Heilen Auskurieren gemeint oder wird eine andere Form der Veränderung mehr wertgeschätzt?); welche Kosten sind daran geknüpft; wie wird die Praxis gehandhabt und von wem; wer nutzt die Praxis; und wo ist sie zu finden?
Viele Verhaltensmuster des geistigen Heilens sind für den Beobachter nicht sichtbar. Wenn wir jedoch geistiges Heilen ernst nehmen, müssen wir die großen subjektiven Unterschiede so ernst nehmen wie die Unterschiede des wahrnehmbaren Verhaltens. Der Unterschied zwischen dem, was getan, und dem, was innerlich erfahren wird, zum Beispiel bei der geistigen Behandlung eines Christian Science Praktikers und bei einem Bittgebet am Bett eines geliebten Menschen, ist schon allein im Hinblick auf das Verhalten so groß, wie der Unterschied zwischen einer Quäker-Versammlung und einer katholischen Messe.
Stichhaltiges Kartographieren geistiger Heilpraktiken erfordert auch, dass wir die Karten aus der Vergangenheit verbessern und dabei doch diese inkorrekten Karten als wichtige Information an sich anerkennen. Eine Weltkarte aus dem 16. Jahrhundert ist nicht einfach nur geographisch ungenau. Sie ist auch ein unschätzbares Bild der Haltung und Anschauungen derjenigen, die sie gezeichnet haben. Dasselbe gilt für die Karten geistigen Heilens aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Die Fehler über die Natur und Ausbreitung geistigen Heilens, die wir in diesen Karten sehen, bleiben weiterhin sehr einflussreich.
Deshalb haben die alten Karten für uns heute einen vielfältigen Nutzen, weil sie Fragen an die Forscher stellen und dabei helfen, die Voreingenommenheit zu verstehen, die sie beeinflusst.
Stichhaltige Karten des geistigen Heilens erfordern eine besonders achtsame und feinfühlige Annäherung an die Überprüfung von Literatur. Analysen der Literatur müssen mit einem intellektuellen Verständnis des sprachlichen Sachverhaltes beginnen. Und die Literaturbetrachtung selbst muss sowohl als eine Art lexikalische Untersuchung als auch als Bemühung gesehen werden, die schriftlichen Berichte zusammenzufassen. Die Entdeckung der verschiedenartigen und wechselnden Bedeutungen bei Begriffen geistigen Heilens in akademischer und populärer Literatur ist eine Art grundlegend konzeptioneller Kartographie. Zum Beispiel werden Studien, die sich auf die Entdeckung der Wirksamkeit von Gebet beim Heilen konzentrieren, zunehmend in renommierten, genau revidierten medizinischen Zeitschriften gefunden. Die Fragen, die durch diese Studien aufgeworfen werden, tauchen in den meisten religiösen Zeitschriften und den meisten sozialwissenschaftlichen Zeitschriften, die sich mit Religion befassen, nicht auf.
Zweifellos wird die gegenwärtige Forschung von der weitverbreiteten Akzeptanz äußerst ungenauer historischer Karten behindert, die es versäumen, auch nur in einem bedeutsamen Detail das Charakteristikum dessen zu spezifizieren, was vorgeblich aufgelistet wird. Die Karten weisen mehr weiße Stellen auf als Merkmale, und doch sind diese weißen Stellen wie die blinden Flecken auf der Netzhaut — sie bestimmen den Teil, den wir sehen, sind aber selbst unsichtbar. Für die Wissenschaft, die Politik und für das rein menschliche Interesse ist es inakzeptabel, solchen groben und irreführenden Fehlern zu gestatten, sich hartnäckig als maßgebliches »Wissen« bezüglich einer derart wichtigen Angelegenheit der menschlichen Gesellschaft zu behaupten. Geistiges Heilen ist eine Angelegenheit, die sich nicht nur auf das gesundheitliche Verhalten auswirkt, sondern auch fundamentale und nachforschende Fragen darüber aufwirft, was es heißt, Mensch zu sein und in welcher Art Universum wir leben. Stichhaltige Kartographie geistigen Heilens ist eine Aufgabe von entscheidender Bedeutung für das 21. Jahrhundert und sie wird durch die Tatsache, dass so viele annehmen, eine solche Karte sei bereits erstellt worden, noch umso bedeutender.
