„Das ist ungerecht!“, sagte ein Mädchen in der Cafeteria an meinem Tisch, als ich den Kuchen auspackte, den mir meine Mutter für die Mittagspause eingepackt hatte. „Du kannst essen, was du willst, und bleibst trotzdem schlank.“ Sie schnitt ihrer Packung Reiswaffeln eine Grimasse und schaute mich mit einem Gesichtsausdruck tiefer Abneigung an.
Nachdem ich Bemerkungen dieser Art in der 9. und 10. Klasse des Öfteren hörte, fing ich an, mir wegen meines Gewichts und meiner körperlichen Erscheinung Sorgen zu machen, was ich vorher nie getan hatte. Ich war so erzogen worden, zu essen, was mir schmeckte, wenn ich Hunger danach verspürte, und aufzuhören, wenn ich satt war. Süßigkeiten wurden in unserer Familie nie weggeschlossen. Und nun brachten mich meine Essgewohnheiten, zusammen mit weiteren Eigenarten, plötzlich in eine Außenseiterrolle. Ich dachte, ich hätte keine wahren Freunde. Ich war mir sicher, immer dieses dumme Mädchen zu bleiben, mit dem niemand reden wollte. Wenn ich heute in meinen Tagebücher von damals lese, finde ich Stellen, an denen ich mich fragte, ob es überhaupt sinnvoll für mich wäre, weiter zu leben.
In dem Bemühen dazuzugehören, fing ich an, weniger von den begehrten Süßigkeiten zu essen, die meine Mutter mir normalerweise einpackte. Man sagte immer von mir, dass ich schlank war, aber ich dachte, dass ich noch nicht schlank genug wäre. Ich reduzierte meine Nahrungsaufnahme drastisch, bis auf die Ferienzeiten, in denen ich gefräßig große Mengen der von meiner Mutter gekochten Leckereien verschlang, nachdem ich wochenlang darauf „gespart“ hatte. Jahre später sah ich ein Foto von mir aus dieser Zeit und ich sah darauf, vorsichtig ausgedrückt, ausgemergelt aus. Ich war 162 cm groß und wog nur 37 Kilo. (Bei dieser Größe wäre das Normalgewicht ca. 53 Kilo) Meine Lehrer und meine Eltern waren sehr besorgt, aber ich stritt ab, dass es irgendein Problem gäbe. Ganz offensichtlich zeigte ich alle Symptome von Magersucht.
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