Das Wort Gnade wird im christlichen Glauben viel gebraucht. Der Psalmist schrieb (Ps. 84, 12): „Gott der Herr ist Sonne und Schild; der Herr gibt Gnade und Ehre: er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen.“
Der Apostel Paulus hat das Wort Gnade oft gebraucht. Auf ihm ruhte viel von der Arbeit und dem Ruhm der Verbreitung des Evangeliums Christi Jesu; denn er war Erzieher, Schriftsteller, Redner, er machte Reisen und rief die ersten christlichen Kirchen ins Leben. Nach seiner eigenen Erklärung bedurfte er sehr der Gnade Gottes. Er sagt darüber (2. Kor. 12, 7–9): „Und auf daß ich mich nicht der hohen Offenbarungen überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlage, auf daß ich mich nicht überhebe. Dafür ich dreimal zum Herrn gefleht habe, daß er von mir wiche. Und er hat zu mir gesagt: Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf daß die Kraft Christi bei mir wohne.“
In den Schriften des Apostels Paulus findet man durchweg seine Überzeugung, daß Gnade und Wahrheit durch Christus Jesus kamen. Offenbar war ihm als Erhörung seines Gebets die Gnade Gottes zuteil geworden, daß er seine Arbeit unter allen Umständen fortsetzen konnte. Die Wörterbücher machen klar, daß diese geistige Eigenschaft im weitesten Sinne die Barmherzigkeit Gottes bedeutet; die Freundlichkeit, die Huld, die Gott dem Menschen erzeigt; das Wirken der göttlichen Liebe; den göttlichen Einfluß, der im Herzen wirkt. Gott ist die Quelle der Gnade und der Mensch ihr Empfänger. Es scheint daher, daß die Gnade Gottes der göttliche Einfluß ist, der einen befähigt, Schwierigkeiten zu bekämpfen, bis sie berichtigt und geheilt sind. Gnade gibt inmitten von Unruhe Frieden und Zufriedenheit. Sie ist keine religiöse Schwärmerei oder Gefühlserregung; sie ist das gelassene Verständnis des immergegenwärtigen Christus, das einen stärkt gegen Versuchung und einem zum Sieg und zu Heilung verhilft.
Was Christliche Wissenschafter zuweilen als Beweis betrachten, nämlich menschliche Leistungen und die Erfüllung persönlicher Wünsche, ist nicht der volle Beweis des göttlichen Gesetzes. Die Substanz dessen, daß Gott einen erhört hat, ist Seine allgenügende Gnade. Wer in seinem Leben dem göttlichen Prinzip gehorsam ist, lebt in einem Gnadenzustand. Wenn man im Denken an der göttlichen Gegenwart festhält, bleibt man in dieser Gnade, bis die Anfechtungen durch das Beweisen, daß die Macht Gottes das All-in-allem ist, weichen und verschwinden. Die Gnade ist an und für sich schon der Beweis der Gegenwart und Macht Gottes.
Daß einem Gnade not tut, bedeutet jedoch nicht, daß schwer zu ertragende Dinge fortbestehen sollten. Da Gnade die göttliche Liebe augenscheinlich macht, ist sie etwas Heilendes. Sie ist eine Kraft, die Gutes wirkt, und Schwierigkeiten sollten durch ihr wohltuendes Wirken abnehmen. Mary Baker Eddy schreibt über die Heilarbeit Christlicher Wissenschafter in ihrer Botschaft „Christian Science versus Pantheism“ (S. 10): „Dies alles wird durch die Gnade Gottes vollbracht, — es ist das Ergebnis, wenn man Gott versteht.“
Man kann zuweilen das Gefühl haben, daß man nicht viel über Gott, die göttliche Liebe, weiß. Dies kann in Bezug auf alle Sterblichen weitgehend der Fall sein, da die Sterblichkeit die göttliche Liebe nicht begreift. Aber jedermann kann, wenn er will, das Gegenteil der göttlichen Liebe entdecken, und in dem Maße, wie er jedes Gegenteil aus seinem Denken und Leben ausscheidet, macht er Raum, daß die göttliche Liebe ihn erfüllen kann. Dann kennt er Gnade in seinem Herzen. Sie wird seine Führerin, seine vertraute Freundin. Er findet, daß Gott immer bei ihm ist, und er erhascht einen Schimmer des Einsseins Gottes und des Menschen, des Gemüts und der Idee des Gemüts, wie es in der Christlichen Wissenschaft enthüllt ist. Dadurch lernt er verstehen, daß der materielle Sinn des Menschen trügt und verneint werden muß; daß die Geistigkeit des zu Gottes Ebenbild erschaffenen Menschen der einzig wirkliche Zustand des Menschen ist, und daß man diese Tatsache wertschätzen muß.
Das Äußern der Wahrheit, die man geistig versteht, ist die Tätigkeit des Christus, der die Lüge materieller Annahme herausfordert und vertreibt. Dieses Äußern, dieses Erklären und Erkennen der Gegenwart Gottes führt einen an den Tiefen des tierischen Magnetismus vorbei und darüber hinweg; es wappnet einen, daß man drohenden Annahmen des Bösen widerstehen kann; es läßt einen geborgen im Himmel der göttlichen Gegenwart weilen. Nicht das, was wir in irgend einem Augenblick oder einer Stunde fühlen, sondern das, worauf wir in unserem geheimsten Denken horchen, das ist für unser Erleben wahrhaft maßgebend. Die Treue, mit der man sich des wahren geistigen Seins bewußt bleibt, stärkt den Mut, festigt die Geduld, erneut immerzu die freudige Erwartung, daß das Gute siegen wird. Die Gnade Gottes bleibt gegenwärtig. Das Festhalten an Seiner Gnade bringt die göttliche Erhörung in einer Weise, die dem jeweiligen Bedürfnis entspricht.
Wer Gott als Vater-Mutter kennt, kann sich sehr glücklich schätzen. Der Verlust der Bedeutung von Gott als Vater-Mutter kann mit Gefahren verknüpft sein. Verstandesmäßig-keit kann die Wahrheit wahrnehmen; Gehorsam gegen die göttliche Liebe lebt ihr entsprechend. Gott ist das Gemüt, der Mensch die Idee. Gott ist der Ursprung als Schöpfer; der Mensch das Abgeleitete als Schöpfung. Die Bibel erklärt, daß Gott die Liebe ist. Seine Idee, die Schöpfung, das Abgeleitete, muß also Gott als Liebe ausdrücken, wenn sie Gottes Sein wahrhaft widerspiegelt. Mrs. Eddy, die Verfasserin des christlich-wissenschaftlichen Lehrbuchs „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“, kommt zu diesem Schluß, wenn sie Gott Vater-Mutter und den Menschen — die Schöpfung — das geliebte Kind nennt.
Gott als Vater-Mutter kennen unterstellt den Menschen unmittelbar der Fürsorge der betreuenden, schützenden göttlichen Liebe. Irgendwo muß jeder Mensch einmal Gott als Vater-Mutter suchen und heimkehren in den Schutz der ewigen Arme in dem Verständnis, daß er das geliebte Kind eines liebenden, fürsorglichen Vater-Mutter-Gottes ist. Hier ist es, wo Jesus weilte — daheim bei seinem himmlischen Vater. Und weil er dort weilte, bewies er die Wahrheiten, die Tote auferweckten.
Von Gott verliehene Gnade schließt Treue, Mut und Gütigkeit in sich. Sie verschönt das Verhalten. Sie hat keine Krallen, keinen Stachel. In der Gnade kann es keine Reibung, keinen Widerstand gegen das Gute, keine Auflehnung, kein Unglücklichsein geben. Gnade entschuldigt Unvollkommenheiten nicht, aber sie besänftigt durch Liebe und Geduld, wenn wir mit unseren eigenen Unvollkommenheiten und denen anderer zu tun haben. Ist die aufgeklärte Liebe, die die Unwirklichkeit des Bösen wahrnehmen kann, während sie es ausscheidet, etwas anderes als Gnade? Und die Selbstbeherrschung üben, zu schweigen, wenn man versucht ist zu schelten, kann manchmal die größte Gnade sein.
Und wie erlangt man diese schöne Eigenschaft? Wie bewahrt man sie sich? Dadurch, daß man den Willen Gottes so gewissenhaft tut, wie man nur kann. Christus Jesus sagte (Joh. 7, 17): „So jemand seinen Willen tut, der wird die Lehre erkennen“ (engl. Bibel). Wer danach trachtet, Gottes Willen zu tun, lernt die Lehre der Gnade sicher erkennen. Er nimmt wahr, daß mehr Gnade die ganze christlich-wissenschaftliche Bewegung auf eine höhere Stufe heben wird. Es kann die Welt umgestalten, wenn die Menschen die christliche Gnade suchen und im Leben verwirklichen.
Unsere geliebte Führerin deutet auch an, daß Gnade eine Rolle beim Verhalten, ja sogar bei der Gesundheit spielt, wenn sie in „Miscellaneous Writings“ (S. 354) schreibt: „Etwas mehr Gnade, ein geläuterter Beweggrund, ein paar liebevoll geäußerte Wahrheiten, ein weicher gewordenes Herz, ein gebesserter Charakter, ein geheiligtes Leben würde die rechte Denktätigkeit wiederherstellen und offenbar machen, daß Körper und Seele sich in Übereinstimmung mit Gott bewegen.“