Die Denker der neueren Zeit unterscheiden immer mehr zwischen der eigentlichen Wahrheit und den verschiedenerlei Ansichten über die Wahrheit. So schreibt z. B. ein wohlbekannter Schriftsteller von der Wahrheit nach Browning und der Wahrheit nach Paulus, womit er natürlich die Wahrheit meint, wie die beiden genannten Männer sie auffaßten. Es gibt tatsächlich wenig Menschen, welche vor einer wichtigen Entscheidung Halt machen und sich fragen, was die Wahrheit sei, um die es sich handelt. Und doch ist es gerade dies, was die Christian Science bei jedem Schritt verlangt.
Der Ausdruck „die Wahrheit des Seins” kommt sehr oft in „Science and Health“ vor, und jeder nachdenkende Schüler dieses Textbuches sieht ein, wie notwendig es ist, die Bedeutung dieser Bezeichnung zu verstehen, um über irgendeinen Gegenstand zu richtigen Folgerungen zu gelangen. Auf Seite 218 lesen wir: „Wenn wir zur Erkenntnis der Wahrheit des Seins erwachen, wird jede Krankheit, wird Schmerz, Schwäche, Müdigkeit, Kummer, Sünde, Krankheit und Tod unbekannt sein, und der sterbliche Traum wird für immer aufhören.” Warum sollte nicht ein jeder den Wunsch haben, diese Wahrheit des Seins kennen zu lernen? Niemand wird leugnen wollen, daß es eine Wahrheit des Seins gibt und daß alle Glaubenslehren, die je dargelegt und alle physischen Hypothesen, die je aufgestellt worden sind, dieselbe wenigstens teilweise zum Ausdruck bringen wollten. Aber merkwürdigerweise haben nur wenige danach gestrebt, die Wahrheit des Seins genügend kennen zu lernen, um sie demonstrieren zu können. Sobald wir anfangen, das Christian Science Textbuch zu studieren, wird es uns klar, daß Christus Jesus die Wahrheit des Seins erkannte und sie als für alle Menschen erkennbar ansah — d. h. für alle, die sie annehmen wollen.
Ein eingehendes Studium dieses Gegenstandes enthüllt die Tatsache, daß die Wahrheit des Seins stets anders ist, als das Zeugnis der materiellen Sinne angibt. Nur von diesem Standpunkte aus können die Werke des Meisters verstanden und wiederholt werden. Inmitten des Sturmes, als dem kleinen Schifflein der Untergang drohte, sagte Jesus zu seinen angsterfüllten Jüngern: „Warum seid ihr so furchtsam?” Erkannten sie ihre Lage nicht ebenso klar wie er — sie, die seit ihrer Knabenjahre an die Gefahren der Tiefe gewöhnt waren? Gewiß; weil sie aber die Wahrheit des Seins nicht erkannten, riefen sie aus: „Meister, fragest du nichts darnach, daß wir verderben?” Zu ihrem Glück kannte der große Lehrer diese Wahrheit, und deshalb wurde das Meer stille. Vermöge dieser Kenntnis erweckte er die Tochter des Jairus von dem Traum des Todes und rief Lazarus aus dem Grabe; ja aus allen seinen Worten und Taten ist zu ersehen, was das Erkennen der Wahrheit zu bedeuten hat. Hinsichtlich unsrer Beziehung zur Wahrheit sagte er: „Und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.”
Von niemand wird die Christian Science mehr mißverstanden, als von denen, welche behaupten, sie heile durch Suggestion. Diejenigen, welche diesen Standpunkt einnehmen, sagen nicht, daß die Wahrheit heilt; ja sie bestehen sogar in der Regel darauf, daß die Krankheit wirklich oder wahr sei. Wenn dies der Fall wäre, so müßte eine zwecks Heilung angewandte Suggestion als eine Unwahrheit bezeichnet werden. Nun lehrt aber die Christian Science keineswegs, daß eines Menschen Glauben an die Krankheit nicht an seinem Körper zum Ausdruck kommen könne, sondern sie behauptet vielmehr, dieser Glaube samt seinen materiellen Kundgebungen ändere auch nicht auf einen Augenblick die ewige und universelle Wahrheit des Seins, denn sonst bestünde dieselbe nicht.
Jesus sagte nicht, daß seine Erkenntnis der Wahrheit uns frei machen werde, sondern die Wahrheit werde dies tun, wenn man sie erkannt und als solche angenommen hat. Gerade diesen Punkt betont Mrs. Eddy fortwährend. Das Erkennen der Wahrheit erklärt die vielen wunderbaren Heilungen, die durch das Lesen von „Science and Health“ bewirkt werden. Die Patienten vergessen ihre Krankheit über dem neuerwachten Begriff von der Wahrheit, und in ihrem Bewußtsein beginnt die Wirklichkeit die Stelle der Unwirklichkeit einzunehmen. Es gibt wohl solche, die zu sehr entmutigt sind, um den heilenden Trunk selber an die Lippen zu führen, und deshalb muß ein andrer ihnen helfen. Nichtsdestoweniger ist es die Wahrheit selbst, welche heilt, welche den Sinn der Seele wiederherstellt, welche den Traum der Furcht, des Kummers, der Sünde und des Todes verscheucht und welche die Tatsache enthüllt, daß der Mensch auf ewig von seinem göttlichen Prinzip, dem Leben und der Liebe, regiert wird.