Es ist mir noch sehr klar im Gedächtnis, mit welch hohen Erwartungen ich anfing, „Science and Health with Key to the Scriptures“ zu lesen. Ich hatte jahrelang über den großen Unterschied nachgedacht, der zwischen gewissen allgemein verbreiteten Religionslehren einerseits und einer scheinbar mehr vernunftgemäßen Erklärung des Seins andrerseits besteht, und als ich dann endlich hörte, daß ein „Schlüssel zur Heiligen Schrift” zu haben sei, konnte ich kaum warten, bis ich in dessen Besitz kam. Ich wünschte mir Glück, daß ich nun eine richtige Erklärung der Bibelstellen gefunden hatte, welche die Christen zur Basis der Lehren gemacht haben, denen ich nicht beistimmen konnte, weil sie meiner Ansicht nach nicht die wahre Bedeutung des Wortes Gottes darlegten.
So wartete ich denn mit Ungeduld auf dieses Buch, von welchem ich mir „ein fettes Mahl” biblischer Auslegungen versprach. Jedoch meinem damaligen Empfinden nach erfuhr ich eine Enttäuschung. Das Buch war ganz anders, als ich erwartet hatte, denn ich meinte, ich würde in demselben eine spezielle Auslegung all der Bibelstellen finden, auf welche sich die verschiedenen Religionssysteme stützen. Ein gewisses Etwas hielt mich jedoch an das Textbuch gefesselt, und ich studierte weiter. Nach und nach kam ich zu der Überzeugung, daß dieses Buch dennoch gerade das war, was ich mir gewünscht hatte, und daß es in der Tat ein „Schlüssel zur Heiligen Schrift” sei. Der Unterschied zwischen meinen Erwartungen und dem, was ich fand, bestand darin, daß Mrs. Eddy in diesem Buche nicht alle wichtigen Bibelstellen einzeln erklärt, sondern daß sie uns lehrt, die Dinge von ihrem Gesichtspunkte aus zu sehen, wodurch die innere, die wahre Bedeutung der Heiligen Schrift so klar wird, daß ein jeder sich die Stellen selbst erklären kann. Seit ich den Standpunkt Mrs. Eddys zu dem meinigen gemacht habe, hat mir unser Textbuch in der Tat ein „fettes Mahl” geboten.
Es gibt wohl keine Stelle in der Bibel, an welcher man klarer erkennen kann, daß das Christian Science Textbuch ein „Schlüssel” zu Gottes Wort ist, als die folgende aus dem Evangelium Johannes: „Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.” Wie viele Tausende hat es wohl noch außer mir gegeben, die nicht verstehen konnten, wie durch das stellvertretende Opfer eines Unschuldigen und das dadurch bewirkte Entrinnen des Schuldigen der Gerechtigkeit Genüge getan werden und der Sünder zur Buße gelangen kann. Wir sind Mrs. Eddy gewiß zu großem Dank verpflichtet, indem sie uns klar gemacht hat, daß die obige Stelle aus der Heiligen Schrift durchaus wahr ist, daß dieselbe aber in ihrer wahren Bedeutung nicht auf eine stellvertretende Versöhnung [englisch „atonement“, „at-one-ment“, Einsmachung] hinweist, sondern daß sie uns durch den Erlösungsplan, den sie uns zeigt, die glorreiche Möglichkeit einer völligen Einsmachung oder Vereinigung mit dem Vater enthüllt.
Jesus war es, der diese Worte sprach, und zwar zu Nikodemus. Sie drücken eine wichtige Tatsache aus, welche aber nicht näher erklärt wird. Vielleicht sagte Jesus mehr zu Nikodemus, als in dem betreffenden Kapitel verzeichnet steht. Vielleicht erklärte er ihm, was unter dem „eingeborenen Sohn” zu verstehen ist. Wie dem auch sei — die Erklärung der Christian Science läßt keinen Zweifel zu, daß die Bedeutung dieser Stelle eine ganz andre ist, als die Christen im allgemeinen geglaubt haben. Nachdem der Scheinwerfer der geistigen Auslegung auf diese Stelle gerichtet worden ist, wird es klar, daß nur die Wiedergeburt die wahre Sohnschaft enthüllen kann.
Nikodemus hatte ohne Zweifel sehr falsche Anschauungen in Bezug auf die Probleme des Daseins. Wie die Menschen unsrer Tage, so bedurfte auch er der Unterweisung. Die Schwierigkeit, mit der er zu kämpfen hatte, war wohl der dualistische Begriff — der Glaube an das Vorhandensein und die Macht des Übels sowohl als des Guten. Er glaubte mehr an die Wirklichkeit und Macht des Übels als an die Allheit und Fortdauer des Guten, während doch in Gottes Schöpfung nur eine Eigenschaft, das Gute, zum Ausdruck kommt. Der Sohn oder Abkömmling Gottes, der eingeborene Sohn, auf den Jesus als Erlöser der Welt den Nikodemus hinwies und an den man heute wie damals glauben muß, um ewiges Leben, ewige Gesundheit und ewiges Glück zu erlangen — dieser Sohn ist die Wiederspiegelung des einen vollkommenen Guten, der Sohn, neben welchem es keinen andern gibt und dessen Musterbild Christus ist. Die erlösende Botschaft der obenangeführten Worte liegt in der Tatsache, daß sie uns von dem dualistischen Begriff vom Sein wegführt und auf den ungeteilten Begriff hinweist. Sie ermahnt uns, den dualistischen Begriff aufzugeben und nicht das Übel neben dem Guten als Wesenheit anzuerkennen. Sie lehrt uns, daß wir den Glauben aufgeben müssen, daß in Gottes Schöpfung zwei entgegengesetzte Eigenschaften bestehen, da es doch in Wirklichkeit nur eine Eigenschaft gibt, welche von Gott, dem einen Ursprung, dem Quell alles Guten, ausgeht.
Als Jesus sagte, daß diejenigen, welche an den „Eingebornen”, an die einzige Wirklichkeit glauben, „ewiges Leben haben” sollten, so meinte er damit, daß, wenn wir an etwas andres als an das völlig Gute glauben, oder wenn wir die Menschheit und das materielle Weltall als unvollkommene Teile der Schöpfung Gottes ansehen, wir es auf die Gefahr hin tun, uns in unsrer Vorstellung gerade diesen Zustand des Seins zu schaffen. Diese aus obigen Worten Jesu sich ergebende Warnung wiederholt sich in den folgenden inspirierten Worten Mrs. Eddys: „Vertraut auf die Wahrheit, und habt kein andres Vertrauen” („Sentinel“ vom 4. Juli 1903). Was Jesus den Nikodemus lehren wollte, kann auch in unsern Tagen nicht genug betont werden, nämlich, daß man nur an das wahrhaft Wirkliche glauben soll.
Der dualistische Begriff kann nur durch einen allmählichen Prozeß unterworfen und vernichtet werden. Wir müssen nach und nach den Glauben an die Wirklichkeit der Unvollkommenheit beseitigen, die Behauptungen der materiellen Sinne zum Schweigen bringen. Je mehr wir den Sohn Gottes als den wahren Menschen erkennen, der unveränderliche, vollkommene und unbegrenzte Eigenschaften und Fähigkeiten hat, desto mehr wird uns das Reich Gottes erscheinen. Wir können dieses Ziel nicht mit einem Sprung erreichen, sollten aber jeden Tag ein besseres Verständnis vom wahren Sein erlangen. Nichts ist sicherer, als daß wir nie in einer Richtung Fortschritte machen können, nach welcher wir nicht streben; daß wir nicht gottwärts zu wandeln vermögen, solange wir ohne allen Protest fortfahren zu glauben, daß die Wesenheit des Seins von Natur unvollkommen und begrenzt sei und daß man Sünde, Krankheit und Verwesung nicht vermeiden könne.
Wie Jesus andeutete, liegt unsre Hoffnung darin, daß wir uns zum Glauben an das Geistige und Vollkommene erheben, anstatt fortwährend das Vorhandensein und die Gesetzmäßigkeit eines von Gott, dem unendlich Guten getrennten Zustandes des Seins zuzugeben.
Das Weltall ist eine Einheit und muß als solche betrachtet werden. Alle Geschöpfe Gottes sind Teile des Ganzen, und dasselbe bildet eine vollkommene geistige Schöpfung, so daß es gerade so wichtig ist, alle Wirklichkeiten des Seins für vollkommen anzusehen, wie man den wahren Menschen für vollkommen ansehen muß. Wegen der „Einheit des Guten” ist es tatsächlich unmöglich, an den „Eingebornen” zu glauben und zugleich irgendeine Kundgebung oder irgendein Geschöpf Gottes für weniger als gut zu halten. Das völlig Gute als individueller Begriff und als Gesamtbegriff ist „die Herrlichkeit als des Eingebornen vom Vater” (Züricher Bibel), und es ist daher ein Vergehen gegen die Wahrheit des Seins, welches nicht ungestraft bleiben kann, wenn wir auch nur auf einen Augenblick etwas Geringerem als einem vollkommenen Begriff von einem Geschöpf Gottes in unserm Bewußtsein Einlaß gewähren.
Wenn wir uns in diesem Punkte nicht in acht nehmen, messen wir dem Wort „Geschöpf” leicht eine unrichtige Bedeutung bei, indem wir vergessen, daß alles Erschaffene ein Geschöpf ist, sei es nun der Mensch oder irgendeine andre Wesenheit in Gottes Weltall. In Wirklichkeit besteht nur ein grammatischer Unterschied zwischen dem Wort Geschöpf und dem Ausdruck Schöpfung. Beide bedeuten „das, was erschaffen ist”. Indem man einen Unterschied gemacht hat zwischen einem Teil der Schöpfung und den übrigen Teilen (hinsichtlich ihrer Beziehung zum geistigen, ewigen Sein), ist im allgemeinen der Glaube entstanden, daß nur das, was man Menschheit nennt, in dem Zustand des Seins, der mit dem Namen „Himmel” bezeichnet worden ist, eine Bestimmung hat; daß nur die Mitglieder des Menschengeschlechts Erlösung erlangen werden.
Der Gründer einer der bedeutendsten christlichen Denominationen erkannte die Wirklichkeit klar genug, um in seinen veröffentlichten Predigten die Vermutung auszusprechen, daß die Tiere wohl auch geistige Geschöpfe symbolisieren. Ehe jedoch das Christian Science Textbuch erschien, wurden die Augen unsrer Generation gehalten, und sie konnte daher nicht die höhere Tatsache erkennen, daß die ganze Schöpfung geistig ist und daß unsre unvollkommene Auffassung von derselben erlöst werden, d. h. dem wahren Verständnis in Bezug auf alle Kundgebungen der Wahrheit Raum geben muß. Wenn die Christian Scientisten diesen Gesichtspunkt erreicht haben, fällt es wie Schuppen von ihren Augen, und die Einheit des Weltalls, einschließlich des Menschen, wird ihnen verständlich. Sie sehen ein, daß die Erlösung der ganzen Schöpfung von dem Fluch Adams die Erlösung eines jeden Teils dieser Schöpfung bewirken muß, und daß daher der Ausdruck „Eingeborne” sich auf alles bezieht, was göttlichen Ursprungs ist oder was Gott erschaffen hat.
Erst wenn die Menschheit die ganze Schöpfung als eine Einheit, als den „Eingebornen vom Vater”, als durchaus gut und deshalb als unschädlich erkannt hat, wird sie völlig erlöst werden von den schmerzlichen Erfahrungen, welche aus unsrer sterblichen Verbindung mit dem übrigen Teil der Schöpfung entstehen, denn wegen des falschen Wertes, welchen der sterbliche Sinn im allgemeinen den Wesenheiten der Schöpfung beimißt, indem er dieselben für weniger als gut ansieht, liegen die Menschen in den Banden von Sünde, Krankheit und Tod. Der sterblichen Vorstellung gemäß ist der Mensch ein Feind des Menschen, Krankheiten sind ansteckend, die Tiere sind bösartig und reißend, viele Pflanzen sind giftig und die schöne Rose, das frischgemähte, duftende Heu, ja selbst das Wasser und die Luft können uns schaden. In Wahrheit sind alle Geschöpfe Gottes vollkommen und gut, und wenn unser falscher, materieller Begriff von Seiner Schöpfung erst beseitigt ist, so bleibt nichts übrig, was Furcht erregen oder schaden kann.
Liebe erzeugt Liebe, und selbst die rauhe Natur widersteht ihrer Gewalt nicht auf immer. Wäre unzähligen Menschen mehr Liebe in der Kindheit und Jugend entgegen gekommen, sie würden in einem viel höheren Grade humanisiert sein.
