Als die Jünger Jesu jenen Mann sahen, der blind geboren war, suchten sie sein Leiden auf Grund des vermeintlichen Gesetzes der Erblichkeit zu erklären, wie dies in solchen Fällen ja auch heute noch häufig geschieht. Mrs. Eddy hat uns darauf hingewiesen, wie klar der Meister erkannte, daß „der göttliche Geist (Mind) ... die einzige Ursache oder das einzige Prinzip des Seins” ist; daß „Ursache ... nicht in der Materie, im sterblichen Sinn oder in physischen Formen” zu finden ist („Science and Health“ S. 262). Deshalb antwortete er: „Es hat weder dieser gesündiget noch seine Eltern, sondern daß die Werke Gottes offenbar würden an ihm.” Bei einer andern Gelegenheit sprach er in Bezug auf Lazarus: „Die Krankheit ist ... zur Ehre Gottes, daß der Sohn Gottes dadurch geehret werde.”
Die Bedeutung dieser Worte Jesu war mir längere Zeit unklar, denn es schien mir nicht möglich, daß Gott diesen Menschen absichtlich blind erschaffen habe, nur damit derselbe nach jahrelangem Leiden geheilt und die Macht Gottes durch den großen Lehrer veranschaulicht werde. Diese Auslegung weisen die meisten denkenden Menschen unsrer Zeit von sich. Während ich über obiges Problem nachdachte, fiel mir ein Satz aus „Science and Health“ ein, der mir sofort Licht und Klarheit brachte — eine Wirkung, die jeder wenn auch nur teilweise verstandene Satz in diesem „Schlüssel zur Heiligen Schrift” hervorbringt. Die Stelle lautet wie folgt: „Gerade den Umstand, den der leidende Sinn für grausam und schmerzbringend hält, kann die Liebe zu einem unbewußt beherbergten Engel machen” (Ibid., S. 574).
Hieraus geht hervor, daß wir die geistige Schöpfung klarer sehen, wenn wir uns nicht mehr unserm Empfinden der Disharmonie widerstandslos hingeben, sondern es überwinden, indem wir es als unwirklich erkennen. Jedesmal, wenn wir die völlige Nichtigkeit des Übels und die Allheit des Guten sehen, werden die Werke Gottes unserm Bewußtsein offenbar, worauf dann ihre äußerliche Kundgebung folgt. Ferner wird der Sohn Gottes, Christus, die Wahrheit, durch das Überwinden der scheinbaren Disharmonie verherrlicht. Wenn wir in dem allgemein verbreiteten Glauben leben, daß uns die Materie Schmerz und Freude bereiten könne, werden Gottes Werke nicht in uns offenbar. Dieses Offenbaren sollte der einzige Zweck unsres Lebens sein, sollte uns zur dauernden Freude gereichen. Das Empfinden des Leidens jedoch veranlaßt uns weit eher, die Wahrheit zu suchen und den Sohn Gottes zu ehren, als der Glaube an die Freuden der materiellen Sinne; deshalb finden wir die Wahrheit eher dann, wenn die Umstände „grausam und schmerzbringend” erscheinen.
In der Christian Science wird sehr viel Gewicht auf die Tatsache gelegt, daß Gott die einzige Ursache ist und daß deshalb alle Ursache geistig sein muß. Jesus erkannte dies und wußte es dem heimgesuchten Manne so klar zu machen, daß derselbe die wahre Beziehung des Menschen zu seinem Schöpfer erkannte und infolgedessen nicht nur physisch, sondern auch geistig sehend wurde. Somit konnte dieser Blinde, der einen leidenden Sinn hatte, die Wahrheit schneller erkennen und dadurch „die Werke Gottes” offenbaren, als viele der reichen und in angenehmen Umständen lebenden Pharisäer, die diesen Beweis der Macht Gottes vor Augen hatten und ihn dennoch nicht zu sehen vermochten.
Hiob rief in einem Augenblick großer geistiger Erleuchtung aus: „Und werde in meinem Fleisch Gott sehen.” Der geistigen Auslegung Mrs. Eddys zufolge bedeutet dies: „Hier und jetzt werde ich Gott, göttliche Liebe, sehen” („Unity of Good“, S. 55). Diese Erfahrung machen in unsern Tagen Hunderte von Menschen in allen Ländern, dank der Erleuchtung, die uns die Christian Science gebracht hat. Jedesmal, wenn wir durch die Erkenntnis der Allheit Gottes eine Sünde überwinden oder eine Krankheit zerstören, sehen wir die Offenbarung der „Werke Gottes.” Wir haben dann das Gefühl, daß wir an heiliger Stätte stehen. Solche Erfahrungen gehören zu dem Wunderbarsten, was uns auf unsrer Reise vom Sinn zur Seele begegnet.
 
    
