Es ist nicht zu verwundern, daß der Lieblingsjünger Jesu drei Jahre lang, nachdem er alles verlassen und sein Amt als Menschenfischer angetreten hatte, des Meisters innigster Freund und Vertrauter gewesen war — daß dieser Jünger uns in seinem Evangelium und in seinen Episteln mehr als die andern Jünger von der unendlichen Liebe und Güte erzählen konnte, deren Zeuge er gewesen war und die er an sich erfahren hatte. Er, dem es vergönnt gewesen war, bei dem letzten Mahl an des Meisters Brust zu liegen, er, der erklärt hatte: „Gott ist Liebe”, er, der wußte, mit welch tiefer und allumfassender Liebe Jesu Jünger gesegnet worden waren (man denke an Jesu Worte: „Gleichwie mich mein Vater liebet, also liebe Ich euch auch”)— er war es, der uns das folgende neue Gebot des Meisters gab, welches dessen Abschiedsworte an seine Nachfolger bildete, ehe er zur höchsten Demonstration seiner Liebe schritt: „Daß ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebet habe, auf daß auch ihr einander lieb habet.” Johannes bewies sein klares Erfassen dieses Gebotes, wenn er in seinen Episteln immer wieder die Nachfolger dessen, der uns bis an das Ende geliebt hat, mit den folgenden Worten ermahnte: „Kindlein, liebet einander”. Offenbar hielt er dies für den wesentlichsten Bestandteil, die Grundlage des Gehorsams gegen die Gebote des Meisters.
Die praktische Bedeutung dieses neuen Gebotes für die Christian Scientisten wird von Mrs. Eddy in einer ihrer Botschaften klar dargelegt. Sie gibt uns da eine Norm, die wir stets von Augen haben müssen und deren Anforderungen wir jederzeit zu genügen bestrebt sein sollen. Sie sagt: „Das neue Gebot Christi Jesu zeigt, worin wahrhaft geistige Gesinnung und ihr wohltuender Einfluß auf den Kranken und Sünder besteht. Niemand kann die Menschheit heilen oder bekehren, wenn nicht Liebe und Menschenfreundlichkeit die Triebfeder sind. Die Übereinstimmung zwischen dem Gesetz und dem Evangelium, zwischen dem alten und dem neuen Gebot bestätigt die Tatsache, daß Gott und Liebe eins sind. Die geistig Gesinnten sind von Güte, Wahrheit und Liebe erfüllt. Das Leben Christi Jesu, seine Worte und Taten, demonstrieren Liebe. Wir haben keinen Beweis dafür, daß wir Christian Scientisten sind, außer wir sind von diesem Geist beseelt und besitzen seine Macht zu heilen und zu erretten” („Messages to The Mother Church“, S. 82).
Dies ist also das Ziel, dem wir zustreben sollen. Wir müssen einander mit der Liebe des Meisters lieben — mit jener geduldigen, sanften und verzeihenden Liebe, die das Übel nur kennt, um es zu zerstören — mit jenem gewinnenden Zartgefühl, welches die Sünder zur Reue und Bekehrung führte und zugleich die Sünde rügte. Wir müssen durch tägliche, ja stündliche Ausübung der Wahrheit, die er lehrte und veranschaulichte, den Beweis liefern, daß diese christusähnliche Liebe in unsern Herzen wohnt. Diese Liebe können wir nur dann durch das Heilen der Kranken kundtun, wenn unser Denken mit der Wahrheit, zu der wir uns bekennen, im Einklang steht. Solange wir uns einer Mißhelligkeit zwischen uns und unserm Bruder bewußt sind, solange ein gegenseitiges Gefühl des Grolls, des Mißtrauens oder des Neides besteht, hat es keinen Zweck, unsre Gabe auf dem Altar darzubringen, in der Erwartung, sie werde angenommen. Alles, was dem Guten unähnlich ist, muß ausgetrieben werden, ehe wir der Segnungen Gottes für das unternommene Werk würdig sind, mögen unsre Bemühungen an und für sich auch noch so lobenswert sein.
Unsre Liebe muß etwas Höheres sein als ein bloßes Glaubensbekenntnis. Johannes erklärt: „Meine Kindlein, laßt uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit.” Es genügt nicht zu sagen, daß wir Gott lieben, und daher auch unsre Mitmenschen. Wir müssen die Echtheit unsrer Versicherungen durch unsre Taten beweisen. Die sogenannte Liebe, die sich bei jeder Gelegenheit zur Schau stellt, jedoch völlig versagt, sobald ein Opfer von ihr verlangt wird; die die treuen Dienste eines andern gedankenlos annimmt, ohne jemals an einen Gegendienst zu denken; mit andern Worten, die nur an das eigne ich denkt und ihre Verpflichtungen entweder nicht erkennt oder sie außer acht läßt, ist ein Zerrbild der wahren Liebe, die sich nicht „blähet”, ihrem Walten keine Grenzen setzt, sich vor keinem Dienst scheut, der kein Opfer zu groß erscheint, die freigebig ihr bestes gibt und keine andre Belohnung verlangt, als die durch das Geben bewirkte Freude.
Solcher Art war die Liebe des Meisters. Er, der nicht hatte, „da er sein Haupt hinlege”, der keinen irdischen Besitz sein eigen nannte, gab reichlich aus dem Schatz, der mit Geld nicht erworben werden kann und den die Heuchelei vergeblich nachzuahmen sucht — aus dem unerschöpflichen Vorrat des göttlichen Erbarmens und der göttlichen Liebe, welche die Kranken heilte, die Hungernden speiste, die Verlorenen auf den rechten Weg brachte und die Traurigen tröstete. Selbst am Kreuze betete er zum Vater, er möge denen vergeben, die ihn mit unsäglichen Schmähungen überhäuft hatten. Wir können als treu gesinnte Scientisten nie aufhören, nach der Nächstenliebe zu streben, welche unsre verehrte Führerin, die Entdeckerin und Begründerin dieser heilenden Wahrheit, in so hohem Maße kennzeichnete. Wir können jetzt noch nicht verstehen, wieviel sie gelitten und wieviel sie von ihrem eignen Ich daran gegeben hat, um uns dieses unschätzbare Erbe zu sichern, aber wir haben das Vorrecht, unsre Schuld ihr gegenüber durch liebevollen Dienst an andern in gewissem Maße abzutragen.
Jetzt ist die Zeit mit der Abzahlung zu beginnen. Jedesmal, wenn wir in unsern Gottesdiensten die sanfte Ermahnung hören, welche unsre verehrte Führerin in dem Abschnitt „Rule for Motives and Acts“ („Vorschrift in Bezug auf Beweggründe und Handlungen”, Manual, S. 40) gegeben hat, wollen wir uns von neuem vornehmen, daß „weder Erbitterung noch persönliche Anhänglichkeit” unsre Gedanken und Handlungen beherrschen, daß all unsre Gedanken Worte und Taten, soweit es uns möglich ist, „die holde Anmut der Liebe” widerspiegeln sollen. Wir wollen den festen Entschluß fassen, unaufhörlich zu wachen und zu beten, wie der Meister uns ermahnte, um von allem Übel erlöst zu werden; wir wollen diese „Anmut” immer wieder von neuem in unserm täglichen Wandel zum Ausdruck bringen, damit wir dem Gebot unsres Meisters gehorchen mögen: „Daß ihr euch untereinander liebet wie ich euch geliebet habe.” Dann werden wir allezeit das Echo des Engelchors hören, der vor Jahrhunderten über die Hügel Judäas hallte: „Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen”.