Die wunderbaren Erfahrungen des Moses zwischen seiner Auffindung als Kindlein im Schilf des Nils, bis zu seinem achzigsten Jahr, da, wie uns berichtet wird, Gott aus dem brennenden Busch zu ihm redete, werden in der Heiligen Schrift nur gestreift. Moses war ein äußerst bescheidener Mann, und dies ist wahrscheinlich der Grund, weshalb er als Verfasser des zweiten Buches Mose — als solcher wird er wenigstens angesehen — nur über die wichtigsten Ereignisse aus seinem Leben berichtet.
In der Apostelgeschichte jedoch macht Stephanus einige interessante biographische Angaben über Moses, die sich offenbar durch mündliche Überlieferung erhalten hatten. Aus dieser Quelle erfahren wir, daß die Laufbahn des Moses in drei Abschnitte von etwa je vierzig Jahren zerfällt. Der erste erstreckt sich über die Zeit von seiner Geburt an bis zu seiner Flucht aus Ägypten; der zweite von seinem Aufenthalt im Lande Midian bis zu seiner Rückkehr zu den Israeliten, um sie aus Ägypten zu führen; und der dritte umfaßt die Wanderungen in der Wüste und beschließt sein Erdendasein mit seinem für den materiellen Sinn geheimnisvollen Verschwinden vom Berge Pisgah.
Als Kind entrann Moses einem ähnlichen Schicksal, wie es später zu Herodes Zeiten dem Kinde Jesus zugedacht wurde. Unter der Gönnerschaft der Tochter des Pharao am ägyptischen Hofe genoß er eine sorgfältige Erziehung und wurde in allen Künsten und Wissenschaften des Orients unterwiesen. Auch steht fest, daß er der hebräischen Sprache mächtig war und die alten Überlieferungen über Gottes Verheißungen an das israelitische Volk kannte. Obwohl Moses die großen Vorteile, die ihm das Glück bescheert hatte, zu schätzen wußte, so war er doch weit mehr auf das Wohl seiner hebräischen Brüder bedacht, als auf sein eignes Fortkommen. Ohne Zweifel widmete er der Lösung ihrer Probleme viel Zeit und Überlegung, auch muß er oftmals über die Mißhandlung der Kinder Israels in Empörung geraten sein. Als er einstmals einen ägyptischen Frohnvogt einen Israeliten züchtigen sah, ließ er sich vom Zorn überwältigen und erschlug den Ägypter. Die Tat wurde ruchbar, und Moses erkannte, daß er einen Fehler begangen hatte. Anstatt der göttlichen Gerechtigkeit die Lösung dieser Fragen zu überlassen, hatte er durch eine eigenmächtige Rechtsentscheidung wenigstens bis auf weiteres die Gelegenheit verscherzt, dem seinen Stammgenossen zugefügten Unrecht abzuhelfen.
Sodann treffen wir ihn bei seinem Eintritt in den zweiten Abschnitt seiner ereignisreichen Laufbahn. Nach seiner Flucht aus Ägypten wurde er der Schwiegersohn und Diener Jethros, eines Priesters in Midian. Als einer, der sich der Strafe durch die Flucht entzogen hatte, verbrachte Moses die nächsten vierzig Jahre seines Lebens in der arabischen Wüste, wo er die Schafe hütete. Es war dies eine Beschäftigung, die ihm jedenfalls viel Zeit ließ, über die Ereignisse seines früheren Lebens und deren Bedeutung für seine Zukunft nachzudenken. Hier, fern von menschlicher Berührung und abseits vom weltlichen Treiben, muß er sich Gott allmählich genähert haben, und hier sollte er dann die göttliche Offenbarung empfangen, die schließlich zum Auszug Israels aus Ägypten führte.
Wie oft mag wohl Moses im Laufe all der Jahre gedacht haben, sein Leben sei verfehlt und der von ihm in Ägypten begangene Fehler könne nie wieder gut gemacht werden. Dann muß er aber die Wahrheit über Gott und den Menschen wieder klar erkannt haben, und zu solchen Zeiten fand in seinem Bewußtsein jedenfalls ein helles Aufleuchten der Erkenntnis statt, daß keine menschliche Macht die Erfüllung von Gottes Verheißungen, die den Nachkommen Abrahams geworden waren, verhindern könne. Auch dürfen wir annehmen, daß er keinen Augenblick sein Suchen nach geistiger Wirklichkeit aufgab. Wir erinnern hier an die bestimmte Äußerung des Meisters, daß jeder, der die Wahrheit ehrlich sucht, sie finden wird. Wahrscheinlich schrieb Moses während dieses Lebensabschnittes den 90. Psalm, der mit den Worten beginnt: „Herr, Gott, Du bist unsre Zuflucht für und für”, und der auch die herrliche Bitte enthält: „Fülle uns frühe mit deiner Gnade”.
Eines Tages, als er seine Herde weiter als sonst in die Wüste getrieben hatte und auf dem Rückweg nach Herob, dem Berge Gottes, kam, widerfuhr ihm etwas Wunderbares! Ein Engel des Himmels erschien ihm in einer Feuerflamme in einem Busch, und als er hinsah, siehe, da brannte der Busch „mit Feuer ..., und ward doch nicht verzehret.” Moses, der denken gelernt hatte, wollte sofort dieser merkwürdigen Erscheinung auf den Grund gehen. Dieser Forschungsgeist wurde durch eine direkte Antwort seitens des unendlichen Geistes belohnt, der ihm zurief, er solle seine Schuhe ausziehen und nicht nahe hinzutreten, denn der Ort, auf dem er stehe, sei ein heiliges Land. Zur Erläuterung solcher Fälle von Gemeinschaft zwischen dem Menschen und Gott sagt Mrs. Eddy: „Es ist denkbar, daß die von der Wahrheit ausgehenden Eindrücke gleich Tönen deutlich vernehmbar waren, und daß sie von den ursprünglichen Propheten als Töne vernommen wurden” („Science and Health“, S. 214).
Bei dieser besonderen Gelegenheit empfing Moses genaue Weisungen hinsichtlich der Aufgabe, die ihm bei der Befreiung seiner Stammesgenossen aus der Knechtschaft bevorstand. Zum erstenmal offenbart sich Gott als der „Ich bin, der ich bin” (Züricher Bibel), was das Sein selbst bedeutet. Moses hatte offenbar seit seiner Flucht aus Ägypten fast allen Mut verloren, denn er erwiderte, er wäre wegen mangelnder Beredsamkeit und schwerer Zunge nicht fähig, ein so wichtiges Werk zu vollführen. Hierauf erklärt Gott, Er werde mit seinem Munde sein. Da sich Moses aber immer wieder der ihm zufallenden Aufgabe zu entziehen sucht, erlaubt Gott schließlich, daß Aaron unter der Leitung Mosis als Wortführer auftrete.
Diese wunderbare Erzählung — betrachte man sie nun als geschichtliche Tatsache, oder nur als eine sinnbildliche Darstellung — enthält ein interessantes und hilfreiches Beispiel für die Wirkungsart des menschlichen Geistes. Das, was persönlicher Sinn genannt wird, möchte uns zunächst glauben machen, wir seien uns selber genug und könnten ganz gut ohne göttliche Hilfe auskommen. Dann aber drängt sich uns die Tatsache auf, daß alles Fleisch wie Gras ist und daß „der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit, und ist voll Unruhe”. Nachdem man sich über das Gefühl der Entmutigung erhoben hat, erkennt man, daß man zwar aus eignen Kräften nichts tun kann, daß man aber alles, was man den Vater tun sieht, in Seiner Macht zu tun vermag.
Tatsächlich macht jedes menschliche Wesen in gewissem Sinne die Erfahrungen des Moses durch. Zunächst sieht er seine Brüder um sich her in der Knechtschaft der ägyptischen Frohnvögte, d.h. in der Knechtschaft der körperlichen Sinne. Sodann will er ihnen in seiner irregeleiteten Weise helfen; doch er findet, daß er selbst seine eigne Vergebung erringen muß, ehe er andre aus ihrer materiellen Knechtschaft befreien kann. Hierdurch kommt er in einen Zustand der Selbstopferung, die, wenn sie nicht in Grenzen gehalten wird, eine Zeitlang alle Hoffnung auf individuelle Erlösung trübt. Nun tritt ein neuer Wechsel ein: Hoffnung kehrt wieder, und Gott spricht aus dem brennenden Busch der geistigen Erleuchtung. Mit göttlicher Vollmacht ausgerüstet, verlangt dann Moses vom Pharao, dem personifizierten Übel, die Freilassung des Volkes.
Bei der Erläuterung des dritten Verses im ersten Kapitel des ersten Buches Mose schreibt Mrs. Eddy auf Seite 503 von „Science and Health“: „Unsterblicher und göttlicher Geist (Mind) legt die Idee Gottes erstens im Licht, zweitens in der Widerspiegelung, drittens in geistigen und unsterblichen Formen der Schönheit und Güte dar”. So machen die Sterblichen die verschiedenen Stadien menschlicher Entwicklung durch und lernen auf diese Weise die falschen Annahmen des persönlichen Sinnes ablegen und den neuen Menschen, der nach Gottes Ebenbild und Gleichnis geschaffen ist, anziehen. Wie im Falle des Moses, besteht der erste Schritt darin, das Licht zu erkennen; danach folgt die geistige Wiederspiegelung des Lichts; endlich erscheint Gottes Weltall in seiner ursprünglichen Vollkommenheit und Schönheit, und der Mensch erscheint nicht mehr als Knecht der körperlichen Sinne, sondern wird offenbar als ein Kind Gottes, das Herrschaft hat über die ganze Erde.