In der Wissenschaft gehen das Geben und das Empfangen Hand in Hand. Ist jemand der Vermittler des Gesetzes der Liebe, so findet bei ihm mit dem Empfangen auch gleichzeitig ein Geben statt. Wahres Geben wird durch das geistige Gesetz ebenso genau regiert, wie die Addition oder die Subtraktion durch ein mathematisches Gesetz. Wer nun das Verständnis von diesem geistigen Gesetz erlangt hat und demselben gehorcht, empfängt den dadurch entstehenden Segen ebenso sicher, wie er durch das Befolgen einer mathematischen Regel zum richtigen Resultat gelangt. Hierdurch wird die wissenschaftliche Übereinstimmung vom Geben und Empfangen hergestellt, und jede Möglichkeit, hierbei vom göttlichen Prinzip abzuweichen, ist ausgeschlossen. Es gibt nur eine richtige Verfahrungsart, drei und vier zu addieren oder drei von vier zu subtrahieren. Weder des Lehrers Anerkennung der eifrigen Bemühungen eines Schülers, noch des Schülers Unvermögen, die Regel zu erfassen, können an dem unwandelbaren mathematischen Gesetz ein Jota ändern. Die Aufgabe des Lernenden besteht darin, sein Denken mit dem Wirken dieses Gesetzes in Übereinstimmung zu bringen. Dann erst kann ein günstiges Ergebnis zutage treten.
Wenn etwas von dem Geist des göttlichen Gesetzes in den beschränkten menschlichen Sinn vom Geben und Empfangen hineingetragen wird, so kommt dieser Sinn in universaler und unparteilicher Weise zum Ausdruck. Sagt doch Mrs. Eddy: „Was auch immer einen segnet, segnet alle („Science and Health“, S. 296). Das Walten dieses Gesetzes bedeutet immer gegenseitiges Wohl und allgemeine Förderung. Es stellt Gleichheit und gegenseitige Abhängigkeit her, ähnlich der zwischen Prinzip und Idee oder Gott und dem Menschen bestehenden. Die Bibel weist aus dieses Gesetz hin, wie z. B. in den folgenden Verheißungen: „Ich werde sein Gott sein, und er wird mein Sohn sein”, und „Wer seine Gebote hält, der bleibet in ihm, und Er in ihm.” Dieses göttliche Gesetz schließt seinem innersten Wesen nach sowohl ein Zuwenig wie ein Zuviel aus. Der Mathematik kann z. B. weder durch Addieren etwas hinzugefügt noch durch Subtrahieren etwas genommen werden, denn sie ist stets vollständig. Der Gebrauch ihrer Bezeichnungen dient nur zur Darlegung des Grundgesetzes, welches das Verhältnis bekannter Größen einer unwandelbaren Ordnung gemäß regiert.
So verhält es sich mit dem Gesetz von des Menschen Beziehung zum Menschen. All sein Tun und Handeln wird durch das vollkommene Gesetz des göttlichen Prinzips regiert; daher sollte man beim Geben oder Empfangen — wie an der Hand eines Beispiels aus der Mathematik soeben gezeigt wurde — nicht befürchten, etwa durch Bereicherung eines andern zu verlieren, denn das Prinzip ist gerecht und unparteilich und bei Ihm „gilt kein Ansehen der Person.” Der Mensch ist, wie eine Nummer, ein vollkommenes, in sich abgeschlossenes Ganzes, dem man weder etwas geben noch nehmen kann. Er ist, wissenschaftlich gesprochen, gleich der ausbalancierten Wage, in einem Zustand vollkommenen Gleichgewichts. Er bewegt sich in wechselseitiger Beziehung zu jeder andern göttlichen Idee innerhalb des Kreises geistiger Liebe, alles empfangend, was Gott gibt, und durch Widerspiegelung alles gebend, was er empfängt. Das menschliche Leben muß geläutert und veredelt werden, dann erst kann es sich hoch genug emporschwingen, um die Wirklichkeiten des Geistes zu erkennen. Sobald diesen Anforderungen genügt wird, tritt das Denken seine Reise vom Sinn zur Seele an. Seine ersten schwankenden Schritte bedürfen oftmals der vorsichtigsten Unterstützung und Leitung. Die Christian Science kommt diesem Bedürfnis entgegen, einmal durch die praktische Heilsarbeit oder die Demonstration der erhaltenden und heilenden Macht der Christus-Idee, und sodann durch die einschlägige Literatur und durch die Vorträge, Lesezimmer und Komitees für Veröffentlichungen. Die höchsten Eigenschaften des Denkens und der Lebensführung sind aber notwendig, um würdig befunden zu werden, als Vermittler der geistigen Gaben zu dienen. Demut, Enthaltsamkeit und Ehrlichkeit müssen alle menschlichen Tätigkeiten innerhalb der Christian Science Sache stützen. Hierzu gehört natürlich das richtige Geben und Empfangen von Vergütung, welches dem Gesetz der Gerechtigkeit und des Rechts entspricht.
Bei der Ausübung der Christian Science ist es das Verständnis von Gott, der göttlichen Liebe und unpersönlichen Wahrheit, die es dem Sucher ermöglicht, seine Gesundheit zu erlangen, und zwar durch geistige Mittel, nicht durch materielle. Daher ist der Empfänger zunächst dem „großen Arzt” zu Dank verpflichtet, und seine Schuld muß er sozusagen mit geistiger Münze bezahlen, denn Materie und Geist können als Gegensätze kein gemeinsames Mittel zum Ausgleich, keine gegenseitige Belohnung haben. Bezahlen bedeutet zufriedenstellen, befriedigen. Für Beistand im Sinne der Christian Science zahlen bedeutet also, dem Gesetz der Wahrheit und Liebe durch Gehorsam Genüge leisten, auf daß Liebe in Liebe widergespiegelt werde (siehe „Science and Health“, S. 17). In dieser Weise ruhen die gleichen Verbindlichkeiten auf dem Empfänger wie auf dem Geber. Die göttliche Liebe holt die menschlichen Bedürfnisse nicht ein, sondern kommt ihnen entgegen.
Es besteht eine scharfe Abgrenzungslinie zwischen dem unpersönlichen Heilen der Liebe und dem menschlichen Bewußtsein des ausübenden Vertreters, der nur in dem Grade das Prisma der Wahrheit und Liebe darstellt, wie sein Verständnis von der Metphysik geistig-wissenschaftlich ist. Ein ebenso großer Unterschied besteht zwischen der Verpflichtung des Patienten einerseits der Wahrheit und andrerseits dem ausübenden Vetreter gegenüber. Eine materielle Vergütung entschädigt den ausübenden Vertreter nur für seine Zeit und hat mit der Vergütung für die Heilung sowie für andre empfangene Wohltaten nichts zu tun. Es ist also nicht zu verwundern, wenn ein Mensch, der in der Dunkelheit des Neides, der Nachsucht, der Selbstsucht oder sonst eines unliebsamen Schattens verweilt, selbst bei ehrlicher Vergütung des ausübenden Vertreters für dessen verwandte Zeit, oder bei der Erfüllung eines andern menschlichen Erfordernisses, sich murrend fragt, weshalb seine Heilung sich so verzögert. Seine Schuld gegen die Liebe ist eben noch nicht bezahlt, und er braucht sich nicht zu wundern, wenn ein Bruder, der sich durch schwere Kämpfe und edles Streben aus der Dunkelheit der Selbstsucht zu den lichten Höhen der Demut und des Glaubens emporgerungen hat, daselbst augenblicklich Heilung findet. Sprach nicht der Meister: „Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen”?
Die Aufgabe des Vertreters besteht vor allem im Geben; und doch ist es dem wechselbezüglichen Gesetz der Widerspiegelung zufolge ebenso notwendig, daß er willig empfange, als daß er willig gebe. Da eine geistig-wissenschaftliche Beziehung wechselseitig ist, muß dies auch in dem Verhältnis zwischen dem Vertreter und Patienten zum Ausdruck kommen, und übermäßige oder zu geringe Bezahlung ist daher gleich unzulässig. Wir brauchen nur die folgende Stelle im zweiten Korintherbrief zu lesen, um ein gutes Beispiel dafür zu finden, welche Stellung man in der Praxis solchen Fragen gegenüber nehmen sollte: „Denn so einer willig ist, so ist er angenehm nach dem er hat. Nicht geschieht das der Meinung, daß die andern Ruhe haben und ihr Trübsal, sondern daß es gleich sei. So diene euer Überfluß ihrem Mangel diese s teures Zeit lang, auf daß auch ihr Überschwang hernach diene euren? Mangel, und geschehe, das gleich ist; wie geschrieben stehet: ‚Der viel sammelte, hatte nicht Überfluß, und der wenig sammelte, hatte nicht Mangel‘”.
Der ausübende Vertreter weiß, daß, wenn er bei seinem Bestreben, die Kranken zu heilen, erfolgreich sein will, er das Sinnenzeugnis verneinen und sich klar machen muß, daß der wahre Mensch niemals krank ist, denn Geist (Mind) ist nicht krank, und die Materie kann nicht krank sein (siehe „Science and Health“, S. 393). Er weiß ferner, daß er diese Behauptung durch entsprechendes Handeln bestätigen muß. Ebenso muß er das Sinnenzeugnis über Beschränkung und Armut verneinen, in der Erkenntnis, daß der Mensch sich stets an der Quelle der Versorgung befindet. Er muß diese seine Erkenntnis durch folgerichtiges Handeln auch äußerlich zum Ausdruck bringen, den Hilfesuchenden von seiner schmarotzerhaften und selbstsüchtigen Abhängigkeit befreien und dessen Denken allem Guten zugänglich machen. Er muß die Ketten der Furcht lösen und den Leidenden vom krampfhaften Sichfesthalten an der zerbröckelnden Materie abbringen.
Jeder wahre Christian Scientist wird rücksichtsvoll und menschenfreundlich sein; doch wird er sich an den folgenden Ausspruch des alten Philosophen halten, den Mrs. Eddy in ihrer Vorrede zu „Miscellaneous Writings“ (S. xii) zitiert: „Die edelste Wohltätigkeit besteht darin, einen Menschen zu hindern, milde Gaben anzunehmen, und die besten Almosen darin, einem Menschen zu zeigen, wie er ohne Almosen auskommen kann.” Die Christian Science Bewegung ist eine religiöse Bewegung, die danach trachtet, das Gebot des Meisters zu erfüllen: „Machet die Kranken gesund, reiniget die Aussähigen, wecket die Toten auf, treibet die Teufel aus. Umsonst habt ihr's empfangen, umsonst gebet es auch.” Sie steht somit heutigestags an erster Stelle unter allen Bestrebungen, die zum Wohl der Menschen dienen. Sie hat eine hohe Norm festgestellt und es ist Sache der Christian Scientisten, diese Norm aufrecht zu erhalten, indem sie in jeder Lebenslage in der besten, dem wahrhaft christlichen Wesen am nächsten kommenden Weise verfahren. Dazu ist aber stetiger geistiger Fortschritt erforderlich.
Der wahre Christian Scientist ist hinsichtlich der besten Heilmethode keinen Augenblick im Zweifel, und er ist daher nur konsequent, wenn er die Zeit eines Menschen, der sich der Ausübung dieser Methode vollständig widmet, hoch bewertet. Die menschliche Natur ist geneigt, umsonst Empfangenes nur gering einzuschätzen. Trotzdem aber wird der Christian Scientist seine Unterstützung niemand versagen, der nicht in der Lage ist, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Die Christian Science hebt die Menschen aus der Armut in einen normalen Zustand, in welchem jede berechtigte Forderung befriedigt wird. „Seid nichts schuldig”, sprach der Apostel, „denn daß ihr euch untereinander liebet.” Es liegt kein Widersinn darin, daß einem Menschen beim Trachten nach geistigen Dingen das übrige alles zufällt. Wer für die geistigen Dinge getreulich gesät hat, wird auch seinen Bedürfnissen entsprechend ernten, denn das ist normal und gerecht. Wir wollen daher als Arbeiter an der Christian Science Sache des Rufs Jesajas an alle, die das geistige Manna suchen, eingedenk sein: „Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! und die ihr nicht Geld habt, kommt her, und kauft ohne Geld und umsonst beide, Wein und Milch!”
Und wenn der Freund dich sticht,
Verzeih’ ihm und versteh’:
Es ist ihm selbst nicht wohl,
Sonst tät er dir nicht weh.