Die Heiltätigkeit der Christian Science erstreckt sich nun bald über ein halbes Jahrhundert, und durch die praktische Anwendung dieser Lehre ist in tausenden von Fällen nachweislich Heilung erzielt worden. Befremdend wirkt daher die von Kritikern aufgeworfene Frage, ob die Christian Science nicht eine Gefahr für den Gesundheitszustand im Gemeinwesen bedeute. Es wird gegen die Christian Science die Einwendung erhoben, sie habe Mißachtung der materiellen Gesetze zur Folge, weil sie absolutes, hingebendes Vertauen auf den göttlichen Geist, Gott, fordere und infolgedessen weder auf gesundheitliche Vorschriften und Quarantäne Rücksicht nehme, noch auf Diätetik, körperliche Übung und sonstige hygienische Maßnahmen Gewicht lege.
Die Christian Science erblickt ihr vornehmstes Ziel in der moralischen Besserung des einzelnen und betrachtet Wiederherstellung der Gesundheit als ein Ergebnis dieser Besserung. Daß eine derartige Wirksamkeit der Gesamtheit nicht förderlich ist, wird wohl niemand behaupten wollen. Jedem Menschen steht — wenigstens hierzulande — das Recht zu, das ihm am besten zusagende Religions- und Heilsystem zu wählen, vorausgesetzt, daß er dadurch den Nächsten in seiner Freiheit und in seinen Rechten nicht beeinträchtigt. Der Umstand, daß sich die Menschen im allgemeinen der von der Christian Science vertretenen Anschauung nicht anschließen, braucht nicht zu befremden, denn sie gehen ja an so mancher wichtigen und wertvollen Entdeckung achtlos vorüber. Andrerseits ist es den Anhängern der Christian Science gerade recht, wenn diese Lehre nach ihren Werken beurteilt und ihre Annahme beim Publikum von denselben abhängig gemacht wird. Die Christian Scientisten haben bewiesen, daß ein wissenschaftlich-mentales Verfahren gesundheitsfördernder ist als Arzneigebrauch, und daß solch ein mentales Verfahren dauernde Gesundheit schafft (siehe „Science and Health“, S. 79).
Die Christian Science hat allerdings eine hohe Norm. Sie fordert eine beständige Hingabe an die ideal-geistige Seite des Lebens und steht in genauer Übereinstimmung mit der Lehre der Bibel: „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben”, was soviel bedeutet wie: Du sollst kein andres Leben, keine andre Substanz oder Intelligenz anerkennen, als den göttlichen Geist (Mind), und sollst nur diesem Geiste dienen. In dieser Beziehung aber stellt sie keine höheren Anforderungen, als das ursprüngliche Christentum, wie wir dasselbe aus der Bibel kennen. So erklärt Jesus z. B.: „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.” Wer glaubt aber Vollkommenheit mit einem Male erreichen zu können? Wir wissen, daß ein jeder allmählich bis zur Fülle geistigen Menschentums emporschreiten muß. Wenn der Schüler der Christian Science auch die Notwendigkeit unbedingter und vertrauensvoller Hingabe an Gott, Geist, zwecks Befriedigung aller menschlichen Bedürfnisse erkennt, so sieht er sich doch bisweilen genötigt, mit dem Meister zu sprechen: „Laßt es jetzt also sein”. Er weiß aber auch, daß auf den letzten Stufen geistigen Wachstums alle materiellen Verrichtungen und Bräuche aus seinem Leben schwinden werden. Die Christian Science findet uns in einem mehr oder weniger unvollkommenen Zustand und trägt demselben Rechnung. Sie weist nicht nur auf das geistige Ideal hin, sondern auch auf die vernünftige und kluge Verfügung über die gegenwärtigen materiellen Daseinsbedingungen.
Die ganze Christenheit erkennt die in der Bibel enthaltenen entschiedenen Worte an: „Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht für euren Leib, was ihr anziehen werdet. ... Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen”; und doch hat unsres Wissens kein Kritiker Bedenken geäußert über einen etwaigen Konflikt zwischen dieser Lehre einerseits, und vernünftigen, gesundheitlichen Vorschriften und der notwendigen Pflege des Körpers andrerseits. Daß das Trachten nach dem Reich Gottes und Seiner Gerechtigkeit für den Menschen weit wichtiger ist, als alles Sorgen um die Erhaltung und Pflege seines Körpers, wird jedenfalls zugegeben werden. Jeder Gläubige sicht jedoch ein, daß er materiellen Zuständen nur allmählich entwachsen kann, und daß daher die bestmögliche Befolgung des erwähnten Gebotes darin besteht, mit jedem kommenden Tage weniger Sorge zu tragen, bis sich ihm nach und nach das volle Bewußtsein der göttlichen Gegenwart erschließen und sein Denken sich von materiellen Sorgen abwenden wird.
Wir sehen also, daß die Forderungen des Christentums genau so durchgreifend und weittragend sind, wie diejenigen der Christian Science, daß sie tatsächlich beide völlig übereinstimmen. Und doch wird niemand auf den Gedanken kommen, das Christentum als eine „Gefährdung der allgemeinen Gesundheit” zu kennzeichnen. Einige Bibelforscher sind der Ansicht, daß der vorerwähnte Text eigentlich lautet: „Sorget nicht ängstlich”. Der Sinn dieser Stelle würde dadurch aber nicht geändert, denn alles auf Materialität begründete Denken ist nun einmal ängstlich. Ängstlichkeit wird durch ein Bewußtsein der Beschränkung, durch ein Vertrauen auf das erwiesenermaßen Unvollkommene, Unbeständige, Ungenügende gefördert und immerwährend erhalten, und diese Ängstlichkeit verlieren wir nur, wenn wir unser Vertrauen auf den unveränderlichen, unendlichen, allweisen Gott setzen.
Man handelt durchaus im Sinne der Christian Science, wenn man sich in kluger und geduldiger Weise an die Aufgabe des Überwindens der Materialität macht. Ein vorsichtiger Christian Scientist unternimmt nur soviel, als er der Erfahrung und Beobachtung zufolge mit Aussicht auf Erfolg ausführen kann. Er wagt sich mit der Ausübung der absoluten Christian Science nur soweit vor, als sein Verständnis es ihm gestattet, und fügt sich im übrigen den Erfordernissen des Sanitätswesens und der Quarantäne. Berechtigte sanitäre Rücksichten beklagen die Christian Scientisten keineswegs, wohl aber unvernünftige hygienische Maßnahmen. Die Forderung völliger Reinheit in physischer und moralischer Beziehung, beim einzelnen wie bei der Gesamtheit, entspricht vollkommen den Lehren der Christian Science, und wenn diese Forderung und das zu ihrer Erfüllung notwendige Verfahren allgemein anerkannt und angewandt würde, gäbe es keine Krankheit in der Welt. Der Christian Scientist liebt allgemeine Sauberkeit, frische Luft, unverfälschte Nahrungsmittel usw., weil das Beste und Reinste in der materiellen Welt dem Geistigen am nächsten kommt.
Es ist behauptet worden, die Christian Science bedeute eine Gefahr für das Gemeinwesen, weil sie falsche Hoffnung erzeuge und dadurch die Kranken veranlasse, sich ihr zuzuwenden, bis es zu spät sei, ihnen durch materielle Mittel Hilfe zu bringen. Wie nun aber durch Nachforschungen in einem Nord- und einem Südstaat der Union vor einiger Zeit festgestellt wurde, hatten fünfundsiebzig Prozent derer, die sich der Christian Science zuwandten, bereits alle materiellen Mittel erschöpft. Durch die Christian Science wurde diesen Leuten dann entweder Heilung oder dauernd Erleichterung gebracht. Man sieht also, daß solche Befürchtungen unbegründet sind; vielmehr berechtigt solches Beweismaterial zu der Annahme, daß die Leute, die durch die Christian Science nicht aufkamen, noch früher gestorben wären, wenn sie keinen Beistand in diesem Sinne erhalten, sondern ausschließlich ärztliche Hilfe in Anspruch genommen hätten.
Angeblich sterben alljährlich fünfzig Millionen Menschen, davon der größte Teil im Kindesalter oder in früher Jugend, und gewöhnlich nachdem eine materielle Methode zur Überwindung der Krankheit angewandt worden ist. Muß es angesichts solcher Feststellungen nicht eigentümlich berühren, wenn die Arzneimittellehre die alleinige Hüterschaft der allgemeinen Gesundheit für sich in Anspruch nimmt, während die Christian Science, die solche nahmhaften Erfolge aufzuweisen hat, als eine öffentliche Gefahr hingestellt wird? Sogar von hervorragenden Ärzten wird die Ansicht vertreten, daß es für die Menschheit besser wäre, wenn es keine Medizin gäbe. Vor einigen Jahren machte ein hervorragender Bostoner Arzt öffentlich die Aussage, fünfundachtzig Prozent aller Kranken würden auch ohne jegliche Behandlung gesund werden, während ein großer Teil der übrigen fünfzehn Prozent überhaupt nicht geheilt werden könnte. Es würde also dem Ausspruch dieses Vertreters der Medizin zufolge nur ein geringer Bruchteil übrig bleiben, der auf diesem Wege zu heilen wäre. Da nun die Christian Science eine große Anzahl von Menschen geheilt hat, die an Krankheiten litten, welche die Arzneimittellehre als unheilbar bezeichnet, so sollte sie als das begrüßt werden, was sie ist, nämlich als der größte Segen des gegenwärtigen Zeitalters.
