Es ist heutzutage ebenso schwer die Gegensätze, die bisweilen zwischen Glaubensgenossen in der Familie, im Geschäft, in der Gesellschaft oder Kirche bestehen, mit ihrem Glaubensbekenntnis in Übereinstimmung zu bringen, als es für den Apostel, Johannes gewesen sein muß, da er in seiner ersten Epistel den scharfen Verweis erteilte: „So jemand spricht, ich liebe Gott, und hasset seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebet, den er siehet, wie kann er Gott lieben, den er nicht siehet?”
Selbst in den Tagen der Kinder Israel wurden die Menschen dazu angehalten einander zu lieben. Im dritten Buche Mose, Kapitel 19, finden wir eine Ermahnung an die Kinder Israel, nicht rachgierig zu sein, noch Zorn gegeneinander zu halten, sondern ihren Nächsten zu lieben wie sich selbst. Das Gesetz der Liebe sollte in dem Evangelium Christi Jesu eine höhere Bedeutung und bessere Auslegung erhalten. Als der in dem Buchstaben des Gesetzes wohl bewanderte Pharisäer den Meister mit der verfänglichen Frage versuchen wollte, welches das vornehmste Gebot im Gesetz sei, schlug dieser den Grundton an, der klar wie eine Silberglocke durch alle seine Lehren hindurchklingt, nämlich, daß der Grundstein des ganzen Gesetzes und der Propheten Liebe sei; daß man Gott lieben müsse „von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte, und den Nächsten als sich selbst.”
Ferner finden wir in den sanften Trostesworten, mit welchen der Meister die Jünger auf die herannahende Probe ihres Glaubens vorzubereiten suchte, eine neue Basis des Vergleiches: sie sollten einander lieben, wie er sie geliebt hatte. Wer hat je die mitleidsvolle Liebe zum Ausdruck gebracht, die er den Menschenkindern erwies — den Kranken und Sündern, ja sogar denen, die ihn vernichten wollten? Und doch forderte er diese Liebe von denen, die von nun an seine Lehren der Welt werktätig beweisen sollten, und richtete die bedeutsamen Worte an sie: „Dabei wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt.”
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