Viele Menschen sind durch die wohlbekannten Worte aus der Offenbarung getröstet worden: „Und ich hörte eine laute Stimme im Himmel sprechen: Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich unsers Gottes worden, und die Macht seines Christus, weil der Verkläger unserer Brüder verworfen ist, der sie verklagte Tag und Nacht vor Gott.” Wohl keine Botschaft wird sehnlicher erwartet oder freudiger aufgenommen, als diese über- zeugungskräftigen Worte an den gepeinigten Sinn: „Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich unsers Gottes worden”. Diejenigen, die den Segen christlich-wissenschaftlicher Heilung erfahren haben, können den Frieden nie vergessen, der höher ist denn alle Vernunft und dessen sie als Ergebnis andachtsvoller Gedankentätigkeit — des Gerechten Gebet — teilhaftig wurden. Diese Erfahrung ist so eindrucksvoll, daß sie sich dem Bewußtsein dauernd einprägt — die Tür ist geöffnet worden und kann nicht wieder geschlossen werden. In den dankbaren Herzen erwacht der Wunsch nach mehr Licht, nach Erlangung den Verständnisses, um jene Höhe geistiger Erkenntnis zu erreichen, die uns zum Leuchtbild für das Licht der Wahrheit macht, zu einem Kanal für die Ströme der Liebe, damit auch andern die Segnungen des Friedens und des Heils zufließen mögen.
Nun entsteht die Frage: Wie wird uns dies möglich? Wie können wir die Gewißheit der Erlösung erlangen, und was sind die Schritte, die zur Gründung des Reichs Gottes im Herzen führen, zur Vorbereitung auf die Ausübung der Kraft Gottes und Seines Christus? In der Offenbarung des Johannes ist dies mit folgenden Worten beantwortet: „Der Verkläger unserer Brüder [ist] verworfen”. Bedeutet dies, wie es manche in Übereinstimmung mit der allgemein verbreiteten Lehre der historischen Kirche verstanden haben, daß es irgendwo einen Verkläger gibt, einen Befürworter des Übels, eine mystische Persönlichkeit, Satan genannt? Spricht der Offenbarer von Dingen, die sich in Zukunft tatsächlich ereignen sollen? Wird dieser Feind dann erscheinen und unsre Brüder vor Gott verklagen, wenn alle Menschen aus ihren Gräbern erstanden sind? Dieser Gedanke erweitert sich zu dem erschreckenden Bild einer universellen Gerichtssitzung, eines Weltgerichts, wo alle Menschen für ihre bösen wie für ihre guten Taten den Lohn empfangen werden, und wo dann nach erfolgter Anklage durch den Verkläger das Reich Gottes gegründet und die Macht Seines Christus in der ganzen Welt eingesetzt werden wird. Wenn man aber dieses Bild eines Tages zukünftiger Gerechtigkeit näher betrachtet, so erkennt man, daß es nur in der Vorstellung besteht und keineswegs mit dem übereinstimmt, was Jesus über Gott und Sein Reich sagte. Er erklärte: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch”, und Mrs. Eddy legt den Sinn dieser Worte dahin aus, daß dieses Reich nicht erst in zukünftigen Zeiten erreicht werden kann, sondern „eine gegenwärtige Möglichkeit” ist (Wissenschaft und Gesundheit, S. 574).
Jesus lehrte, daß Gott Geist ist und daß Sein Gesetz stets wirksam ist. Christen im allgemeinen sowie auch Anhänger andrer Bekenntnisse haben Mrs. Eddys Lehrsatz bezüglich der Gottheit tatsächlich angenommen. Derselbe lautet dahin, daß „alles Gemüt ist, und daß Gemüt Gott ist, Allmacht, Allgegenwart, Allwissenheit — d. h. alle Macht, alle Gegenwart, alle Wissenschaft” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 275). Allwissenheit braucht keinen Verkläger. Wenn eine derartige Dienstleistung zum göttlichen Haushalt gehörte, so würde diese besonders eingesetzte Macht für ihre Hilfe nicht verworfen, sondern gewürdigt und belohnt werden. Wird also der Verkläger verworfen, so muß seine Tätigkeit nicht für hilfreich, sondern für verderblich befunden worden sein; sie muß sich bei der Gründung des Reichs Gottes „auf Erden wie im Himmel” als ein Hindernis erwiesen haben, nicht als ein Förderungsmittel. Den Aussagen Jesu und seiner Apostel zufolge ist dieser Verkläger das ursprüngliche Übel im menschlichen Denken. Jesus sagte: „Richtet nicht”, und an andrer Stelle: „Zeuch am ersten den Balken aus deinem Auge; darnach besiehe, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest.” Paulus schrieb an die Römer: „Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der da richtet, denn worinnen du einen andern richtest, verdammst du dich selbst: sintemal du eben dasselbige tust, das du richtest.” Auch die Worte des Psalmisten: „Wenn du einen Dieb siehest, so läufest du mit ihm”, werden verständlicher, wenn wir sie als eine Äußerung des Gedankens erkennen, daß persönliches Urteilen keine Hilfe für den Irrenden bedeutet, da es einer Einräumung in unserm eignen Denken gleichkommt, daß das Übel die Macht hat oder haben kann, auf die Entscheidungen der Wahrheit störend einzuwirken.
Hinsichtlich dieses Verklägers, der zweifellos wesensgleich ist mit dem, was im ersten Buch Mose als Schlange, im Buche Hiob als Satan und an andern Stellen als Teufel bezeichnet wird, gibt uns Mrs. Eddy in Wissenschaft und Gesundheit eine weitere Erklärung, indem sie den „Teufel” als „Übel” definiert, als „tierischer Magnetismus”, „ein arges Gemüt”, „der erste hörbare Anspruch, daß Gott nicht allmächtig war, und daß es eine andre Macht gab, das Böse genannt, die ebenso wirklich und ewig war wie Gott, das Gute” (SS. 584, 594). Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß das Übel eine falsche Annahme, ein Irrtum oder eine Illusion des sterblichen Sinnes ist. Der Verkläger ist also nicht eine Persönlichkeit, der Ehrfurcht und Andacht gezollt werden muß, sondern nur ein Illusion auf der Ebene des sterblichen Sinnes, wo allein sie sich geltend machen kann. Durch eine Kenntnis der Wahrheit des Seins wird sie aus der ihr lange eingeräumten Stellung vertrieben oder herab- geworfen, und es wird ihr die Möglichkeit, in der göttlichen Ordnung einen Platz einzunehmen, abgesprochen. Da diese Illusion ihre vermeintliche Existenz nur im sterblichen Sinn hat, ist es klar, daß der von ihr ausgeübte verderbliche Einfluß nicht eher beseitigt werden und Erlösung nicht eher stattfinden kann, bis ihre angebliche Macht aufgehoben ist. Der Lösung dieser Aufgabe führt nun die Christliche Wissenschaft ihre Anhänger entgegen. Christus, Wahrheit, ist offenbart worden, um den „Verkläger unserer Brüder” zu verwerfen und somit Erlösung zu bringen. Wenn wir diese Wahrheit erkannt haben, sind wir imstande, die Lehren Christi Jesu in bezug auf Langmütigkeit, Geduld, Versöhnlichkeit und Freundlichkeit gegen alle, selbst gegen diejenigen, die unsre Feinde zu sein scheinen und uns mit Verachtung behandeln, zu verstehen und praktisch auszuüben. Durch das Verständnis, daß das Übel weder eine Person, ein Ort, noch ein Ding ist, wird es möglich, die Macht der Sünde zu verneinen. Nicht unser Mitmensch ist die Veranlassung zu mentalen Tätigkeiten, wie Tadelsucht, Groll, Verachtung, Ärger und Nachsucht, sondern die falsche Annahme, daß das Übel Wirklichkeit und Macht habe. Es ist daher unsre Pflicht zu erkennen, daß diese Annahme die Harmonie des Seins nicht stören kann. Wir müssen ihre Macht über uns verneinen und sie durch die heilende Wirksamkeit der göttlichen Liebe überwinden.
Den Christlichen Wissenschaftern wird also mannigfache Gelegenheit geboten, sich zu betätigen — nicht nur in ihren gesellschaftlichen und geschäftlichen Beziehungen, sondern auch besonders hinsichtlich ihrer Stellung als Christliche Wissenschafter. Anfängern mag es bisweilen scheinen, als hinderten ihre Verwandten, ihre Mitarbeiter oder ihre Umgebung sie in ihrem Fortschritt. Dies ist jedoch nur ein listiger Anschlag des Verklägers unsrer Brüder. Bei ausübenden Vertretern mag sich die Suggestion einstellen, daß die Sinnesart der Hilfesuchenden, die Gleichgültigkeit, der Skeptizismus oder die Feindseligkeit in dem Heim eines Patienten der Heilung hinderlich sein könne. Wenn an manchen Orten die Entwicklung einer Gemeinschaft oder Kirche langsam vor sich geht, so scheint die Ansicht Berechtigung zu haben, daß dies gewissen konservativen, scheinheiligen, gefühllosen, übelgesinnten oder feindseligen Personen oder Kreisen zur Last gelegt werden müsse. Ist dies nicht auch eine Äußerung der Tätigkeit des Verklägers unsrer Brüder? Wenn ein Gesinnungsgenosse mit einem Irrtum kämpft und die Außenstehenden verächtlich auf ihn deuten, sollten wir uns da nicht freuen, daß wir der verklagenden Tätigkeit und ihren üblen Suggestionen widerstehen und somit die Fallgruben des Selbstgerechtigkeit vermeiden können?
Ist uns dies klar geworden und weisen wir den Verkläger jederzeit bestimmt ab, so brauchen wir keine üblen Folgen zu befürchten, wenn diese prahlerische Tätigkeit sich gegen uns richtet. Selbstanklage und Selbstquälerei sind wohl die bösartigste Tätigkeit des Verklägers, und nichts außerhalb der heilenden Wirksamkeit der Christlichen Wissenschaft hat je einen derartig Heimgesuchten in die Gegenwart der göttlichen Wahrheit, in das Licht der göttlichen Liebe emporzuheben vermocht. Die Dankbarkeit, die Mrs. Eddy aus den Herzen derer entgegenströmt, die, als sie sich in solcher Knechtschaft befanden, ihre Ratschläge empfingen und den ersten Hoffnungsschimmer erblickten, und denen sodann eine stets heller werdende Gewißheit des Sieges über Sünde und das eigne Selbst zuteil wurde, bis sie die Möglichkeit, ihre eigne Vergebung auszuarbeiten, in weiter Entfernung, doch als Gewißheit zu erkennen vermochten — diese Dankbarkeit muß ein funkelnder Edelstein in Mrs. Eddys Freudenkrone sein. Das Verwerfen des Verklägers ist ein Schritt zur Erlangung der eignen Vergebung. Das Herz, das den Tätigkeiten der göttlichen Liebe geöffnet ist, kann nicht anders als diese Liebe in liebender Versöhnlichkeit wiederspiegeln. Wenn keine Liebe wiedergespiegelt wird, so beweist dies, daß das Licht noch nicht durchgedrungen ist. Solange wir auf die verklagende Stimme hören, geben wir auch die Existenz eines Verklägers zu — eines Verklägers nicht nur unsrer Brüder, sondern auch unsrer selbst. Das Bemühen, diese unliebsame Stimme zum Schweigen zu bringen, gereicht uns zur immerwährenden Freude, und zwar in dem Maße, wie wir uns der dem Menschen verliehenen Fähigkeit bewußt werden, Liebe wiederzuspiegeln, vornehmlich die höheren Erscheinungsarten der Liebe. Selbst wenn der Irrtum bei seinem Bemühen, die heilenden Ströme der Liebe abzulenken, Tag und Nacht fortfahren sollte, sein Gift in das nach oben gerichtete Streben zu träufeln, so wird ihn doch die Allmacht des Guten schließlich auf immer zum Schweigen bringen. Die Offenbarung dieser Tatsache mögen jene erhabenen Worte veranlaßt haben: „Was werden wir von der mächtigen Besiegung aller Sünde sagen? Ein lauterer Gesang, süßer als er je zuvor zum hohen Himmel emporgedrungen ist, steigt nun klar und näher zu dem großen Herzen Christi auf, denn der Ankläger ist nicht da, und Liebe läßt ihre ureigne und ewige Weise erklingen” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 568).
Die Welt ist voll von Gottes Segen;
Willst du ihn haben, ist er dein.
Du brauchst nur Hand und Fuß zu regen,
Du brauchst nur fromm und klug zu sein.