Der Grund, warum Jesus solch großen Widerstand erfuhr, liegt darin, daß seine Lehre und Ausübung nicht mit der menschlichen Erfahrung übereinstimmte. Er bezeugte das Vorhandensein von Dingen, die das materielle Auge nicht sehen und das materielle Ohr nicht hören kann. „Sein Herr war Geist; ihr Herr war die Materie”, sagt Mrs. Eddy (Wissenschaft und Gesundheit, S. 52). Jesu Lehren brachten das sterbliche Gemüt in Wut — eine Wirkung, die die Erklärung der geistigen Wahrheit auch heute noch hat und die sie stets haben wird.
Daß das sterbliche Gemüt Gott, dem Guten, entgegengesetzt ist, hat Mrs. Eddy fortwährend betont, und ihre treuen Nachfolger haben es reichlich bewiesen. Die Religionslehrer der Zeit Jesu konnten des Meisters Lehren nicht fassen, weil sie dem Zeugnis der materiellen Sinne gemäß urteilten. Sie konnten sich keine Macht denken, die den Sinnen nicht offenbar ist. Als Jesus zu ihnen sagte, sie hätten Augen, könnten aber nicht sehen, Ohren, könnten aber nicht hören, meinte er damit nicht, daß sie nach der allgemeinen Auffassung blind oder taub wären, sondern er wollte ihre Gedanken über die materielle Annahme vom Sehen und Hören emporheben und sie zu der Erkenntnis führen, daß der Mensch geistig ist; daß seine Sinne daher nicht materiell sein können, sondern geistig sind; daß das Leben nicht von der Materie abhängig ist.
Paulus verstand diese Lehre des Meisters, wie folgende Worte aus seinem zweiten Brief an die Korinther erkennen lassen: „Was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.” Und so erklärt auch die Christliche Wissenschaft nur das für wirklich, was ewig ist. Paulus wußte, daß Jesu Nachfolger die den materiellen Sinnen unsichtbaren geistigen Dinge erkennen müssen. Niemand kann den fünf materiellen Sinnen Glauben schenken oder den allgemein anerkannten materiellen Theorien beistimmen, und zugleich die Christliche Wissenschaft demonstrieren. Wer die Aufzeichnungen der großen Taten Jesu aufmerksam liest, muß zu der Einsicht gelangen, daß des Meisters Beweise für die Macht Gottes in direktem Widerspruch zu dem Augenschein der Sinne standen. Das Volk war erstaunt über seine Macht und nannte seine Demonstrationen Wunder; für ihn aber waren sie „göttlich natürlich” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 44).
Jesus tat den Willen seines Vaters, weshalb er sich den Lehren und Annahmen der Religionslehrer seiner Zeit nicht anpassen konnte. Trotz des ihn umgebenden Augenscheins von Krankheit und Tod erklärte er dem Volk, daß diese Phasen der menschlichen Annahme nicht wirklich sind. Er weigerte sich zu glauben, daß Lazarus tot war, und bewies seine Anschauung dadurch, daß er ihn aus dem Traum des Todes aufweckte. Er verwandelte das Wasser in Wein. Der scheinbare Mangel an Broten und Fischen war für ihn unwirklich. In all diesen Fällen bewies er, daß der unendliche Reichtum Gottes stets zur Hand ist. Alle seine Worte und Taten strafen den materiellen, sinnlichen Begriff vom Leben Lügen; sie lehren uns, nur einen Gott zu haben, der Leben, Wahrheit und Liebe, der unkörperlich und ewig ist.
Folgender Fall, wo Jesus die Kraft Gottes in herrlicher Weise demonstrierte, ist für den Verfasser dieses von hoher Bedeutung. Es handelt sich um die Geschichte von der Stillung des Sturms, wie sie im achten Kapitel des Matthäus-Evangeliums erzählt wird. Jesus und seine Jünger waren in einem Schiff auf dem Meer, als sich ein heftiger Sturm erhob, so daß sie scheinbar in großer Gefahr waren. Wir können uns die Szene wohl vorstellen: die niederen schwarzen Wolken, die grellen Blitze, der rollende Donner, die vom Winde gepeitschten Wellen, welche das kleine Fahrzeug umherschleuderten, und bei all der Verwirrung die ruhig schlummernde Gestalt Jesu. In seinem Bewußtsein tobte kein Sturm, sondern tiefer Friede erfüllte es.
Die Jünger urteilten nach dem Augenschein der materiellen Sinne und kannten daher nicht den Frieden, der den Meister erfüllte und ihn ungestört ruhen ließ, wenn auch den materiellen Sinnen zufolge die Elemente in größtem Aufruhr waren. Sie sahen die ungestümen Wellen und fürchteten sich. Daher weckten sie Jesus auf — suchten ihn aus seinem Gefühl der Sicherheit aufzurütteln und ihm die Gefahr klar zu machen, die für sie so offenbar war. Er aber verließ sich auf die geistige Augenscheinlichkeit, die den Jüngern verborgen war, fürchtete sich also nicht vor Wind und Wellen. Für den Meister gab es keinen Sturm. Er wußte, daß der Himmel, die unaufhörliche Herrschaft der göttlichen Liebe, überall ist, und daß die Wut des sterblichen Gemüts, wie sie in dem Sturm zum Ausdruck kam, nur eine Scheinbarkeit war. Daher konnte er die Sache mit den einfachen Worten erledigen: „Schweig und verstumme!” Da ward eine große Stille. Nun wurden die blinden Augen der Jünger geöffnet. Die friedvolle Herrschaft des Geistes und des geistigen Gesetzes, deren sich der Meister stets bewußt war, wurde auch ihnen zum Bewußtsein gebracht.
In dieser Begebenheit liegt eine wichtige Lehre für die Christlichen Wissenschafter. Schauen wir auf die Dinge, die unsichtbar sind? Ruhen wir getrost in Gottes unendlicher Liebe, wenn uns Stürme umtoben? Denken wir daran, daß das Wüten des Irrtums unwirklich ist und daß wir in der unstörbaren Ruhe des göttlichen Gemüts leben, weben und sind? Weigern wir uns, unsre Gesundheit und unser Glück nach dem Augenschein der materiellen Sinne zu bemessen? Sind wir imstande, uns umzusehen und zu sagen: „Trotz dieses oder jenes Umstandes vermag ich glücklich zu sein”? Schließen wir uns hinsichtlich des Sturms der Anschauung des Meisters oder der Anschauung der bekümmerten Jünger an?
Wenn man sich unentwegt für die Obergewalt der göttlichen Wahrheit erklärt, so bedeutet das durchaus nicht, daß man falsche oder unharmonische Zustände unbeachtet läßt, oder daß man „Friede! Friede” sagt, wo doch kein Friede ist. Vielmehr bedeutet es die Anwendung des „schweig und verstumme” des geistigen Verständnisses auf alle falschen Ansprüche der materiellen Sinne. Ein standhaftes Festhalten an der Wahrheit bewirkt die Berichtigung alles dessen, was im äußeren Leben nicht in Ordnung ist. Jesus ließ den Sturm nicht unbeachtet. Er beschäftigte sich in weit wirkungsvollerer Weise mit demselben, als es dem erfahrensten Seemann, der das Wesen der Stürme vom materiellen Standpunkte aus kennt, möglich gewesen wäre. Das zerbrechliche Fahrzeug wurde durch die Anwesenheit Jesu zuverlässiger, als der größte Ozeandampfer unsrer Tage, der auf seine eigne materielle Stärke angewiesen ist. Jesus stillte den Sturm. Können wir uns eine bessere Verfahrungsart denken? Er beseitigte die Ursache der Störung. Wenn heute auf dem Ozean ein Sturm tobt, so findet ein Kampf statt zwischen den Riesendampfern und den ungezähmten Wellen, in welchem die Wellen zuweilen den Sieg davontragen. Mag sich die moderne Wissenschaft auch noch so sehr mit ihren Errungenschaften brüsten, so hat doch bis jetzt noch niemand so mit den Elementen umzugehen gelernt, wie der galiläische Lehrer geistiger Wahrheit. Er erledigte die Sache in wissenschaftlicher Weise. Die einzig richtige Verfahrungsart, den Sturm der materiellen Sinne zu stillen (sei es auf dem Ozean oder im Kampf mit irgendeiner andern hartnäckigen Annahme des sterblichen Gemüts), besteht darin, daß man den Sturm durch die praktische Erkenntnis der Macht Gottes vernichtet.
Wie ganz anders muß sich doch der Sturm dem Meister dargestellt haben, als den Sinnen der Jünger! Für die letzteren bedeutete er einen Kampf mit ungeheuren Schwierigkeiten, ein Ringen zwischen einem zerbrechlichen Fahrzeug und den wütenden Wellen. Ganz anders sah Jesus die Sache an. Die Wirklichkeit war ihm völlig offenbar, während seine Jünger sie nicht erkannten. Er sah die eine Macht, die Allmacht Gottes und die sich daraus ergebende Machtlosigkeit des Sturmes. Er wußte, daß es im Reich Gottes keine Disharmonie gibt und daß das Reich Gottes überall ist. Wie verschieden war doch seine Zuversicht von der seiner Jünger! Sie strebten nach dem Hafen am fernen Ufer, er fühlte sich geborgen in dem Hafen der stets gegenwärtigen Harmonie.
Jesus wandte in allen Fällen von Disharmonie, einschließlich des Todes, ein und dasselbe Mittel an. Als die Kranken zu ihm gebracht wurden, behandelte er sie nicht nach der Art unsrer heutigen Ärzte. Und doch heilte er sie rascher und gründlicher, als je durch Anwendung von materiellen Mitteln geschehen ist. Die Christlichen Wissenschafter haben die nämliche Verfahrungsweise wie Jesus. Sie haben gelernt, daß das Gesetz Gottes, welches zur Zeit Jesu tätig war, auch heute noch tätig ist. Der Verteidiger der Arzneimittellehre sieht den Sturm der materiellen Annahme in der Weise, wie die Jünger ihn sahen; der Christliche Wissenschafter hingegen sucht ihn von dem Gesichtspunkt des Meisters aus zu sehen — dem Gesichtspunkt, den auch die Jünger gewannen, als sie im geistigen Verständnis gewachsen waren. Der Arzt, welcher materielle Mittel anwendet, untersucht den materiellen Körper und urteilt nach dem Augenschein, den die Sinne darbieten; der Christliche Wissenschafter hingegen schaut „vom Körper hinweg und in Wahrheit und Liebe hinein, das Prinzip allen Glücks, aller Harmonie und Unsterblichkeit” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 261). Jesus stillte den Sturm und heilte die Kranken durch ein und dieselbe Macht. Er wußte, daß materielle Mittel ebensowenig die Kranken heilen können, wie sie den Sturm zu stillen vermochten.
Ist es denn so verwunderlich, daß die Kraft, die in wissenschaftlicher Weise die Kranken heilt und die Wellen beruhigt, den materiellen Sinnen nicht sichtbar ist? Die Ergebnisse kann man sehen: der Sturm legt sich und die Kranken werden gesund. Selbst der Materialist muß dies zugeben, wenn er ehrlich ist, mag es ihm auch höchst wunderbar vorkommen.
