Bald nach Beginn des Forschens in Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, dem von Mrs. Eddy verfaßten Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, lernt der Sucher nach Gesundheit und Heiligkeit erkennen, daß Gott nicht der Schöpfer des Bösen, nicht der Urheber von Krankheit und Tod ist und daher keinen Gefallen an einem Menschen hat, der sich diesen Erscheinungen unterwirft. Es erschließt sich ihm immer mehr der Wille Gottes, der darin besteht, daß wir Gesundheit und Heiligkeit zum Ausdruck bringen, und diese Erkenntnis verleiht ihm den Trost, daß des himmlischen Vaters Erbarmen das Erbarmen der liebevollsten menschlichen Eltern weit übertrifft. Schließlich kommt die Zeit, wo er darüber staunt, daß er Gott früher habe bitten und anflehen können, ihm die guten Gaben von Gesundheit und Frieden nicht vorzuenthalten — Gaben, die menschliche Eltern, wenn sie es vermöchten, ihren Kindern ohne deren Bitten angedeihen lassen würden.
Inzwischen jedoch bemächtigt sich des Schülers trotz der ihm gewordenen Erkenntnis bisweilen ein gewisses Gefühl der Unsicherheit, und im Tone der Ungewißheit frägt er dann, wie er beten solle. Hier tut man wohl, der ermutitigenden Worte unsrer Führerin zu gedenken: „Das Verlangen, das da hungernd nach Gerechtigkeit ausgeht, wird von unserm Vater gesegnet und kehrt nicht leer zu uns zurück” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 2). Anstatt also mit Beten ganz auszusetzen, kann er in der Weise beten, wie es ihm auf seiner gegenwärtigen Erkenntnisstufe richtig erscheint. Tut er dies, so wird ihm die beruhigende Gewißheit zuteil, daß die göttliche Liebe für das Wirken des Gebets schon Sorge tragen wird. Dem ehrlichen Sucher entfaltet sich an jedem neuen Tag ein volleres Maß von Weisheit. Ehe unser Meister den Lazarus aus dem Grabe rief, sagte er: „Vater, ich danke dir, daß du mich erhöret hast”, und er gab seinen Nachfolgern die Weisung, zu beten, als ob sie den gewünschten Segen bereits empfangen hätten.
Vor einigen Jahren leistete ich einem Manne Beistand, an dem sich die ärztliche Kunst als machtlos erwiesen hatte und der für unheilbar erklärt worden war. Sechs Wochen lang hatte ich ihn fast täglich besucht, und obgleich der Weiterentwicklung der sogenannten Krankheit vom ersten christlich-wissenschaftlichen Beistand an Einhalt getan worden war, so kam die Heilung doch nicht zustande. Es gab keinen andern Christlichen Wissenschafter in der Gegend, an den ich mich hätte um Rat wenden können. Als ich eines Tages auf dem Wege zum Patienten war, betete ich oder suchte mir klar bewußt zu werden, daß dem Auge der Weisheit nichts verborgen bleiben kann, daß der Mensch unendliche Intelligenz wiederspiegelt und ich daher die Erfordernisse in diesem besonderen Fall genau erkennen würde. Am selben Tage machte ich eine Entdeckung. Der Patient betete wohl, als habe er bereits empfangen, er behauptete wohl von sich, er sei Gottes Kind, dankte Gott wohl für Gesundheit, Kraft und Reinheit, hegte aber dabei heimlich den Gedanken, daß er die größte Unwahrheit äußere.
Ich versuchte nochmals, dem Denken des Patienten die rechte Richtung zu geben, und las ihm verschiedene Stellen aus der Bibel und aus Wissenschaft und Gesundheit vor. Dann fragte ich ihn: „Zögern Sie jetzt noch, Gott Ihren Vater zu nennen?” Er antwortete: „Gott ist mein Vater.” „Sie glauben, daß der Mensch existiert, weil Gott ihn geschaffen hat?” „Das glaube ich”, erwiderte er. „Glauben Sie an das Schriftwort, daß der Mensch zum Bilde Gottes geschaffen ist?” Er antwortete: „Ja.” „Wie können Sie sich vorstellen, daß Gott, Ihr himmlischer Vater, der Ihrer eignen Erklärung nach den Menschen zu Seinem Bilde geschaffen hat, verderbt, unrein und unduldsam sei, wie das sterbliche Gemüt Ihnen den Menschen jetzt erscheinen lassen will. Ist es nicht klar, daß alles, was scheinbar unrein ist, kein Teil von Ihnen, daher kein Teil von Gottes Schöpfung und somit unwirklich ist?”
Nach einiger Überlegung ging dem Patienten ein Licht auf, und er rief aus: „Jetzt wird mir die Sache klarer. Ich begreife nun, daß, wenn ich Unreinheit und Krankheit als zu meinem Ich gehörig betrachte, ich Gott, des Menschen Schöpfer, entehre. Meine Gebete machen Gott menschengleich, statt den Menschen gottgleich zu machen. Ich begreife nun, daß, wenn ich von mir behaupte, ich sei Gottes Kind, ich nur den wirklichen und reinen Menschen kennen darf, der das Ebenbild Gottes ist. Dann kann ich ehrlich beten, als ob ich schon empfangen hätte.” Von dem Tage an zerging die Krankheit in nichts. Das Gebet dieses Mannes beruhte nun nicht mehr auf blindem Glauben, sondern auf zuversichtlichem Vertrauen, auf geistiger Erkenntnis, und durch diese Erkenntnis wurde er geheilt.
Von dein ersten Augenblick bewußter geistiger Wahrnehmung an schwindet allmählich beim Schüler das Gefühl, als müsse er irgendwo nach Gott suchen, desgleichen tritt das Verlangen zurück, dem himmlischen Vater alle seine Sorgen und Bekümmernisse zu erzählen. Obgleich er das Streben aufgegeben hat, sich einer weitentfernten Gottheit zu nähern, stellt sich bei ihm doch kein Gefühl des Verlassenseins ein, denn die Vergegenwärtigung von des Menschen untrennbarer Verbindung mit Gott bringt ihm überaus großen Frieden. Er bleibt unter dem Schatten des Allmächtigen, während ihn jene heilige Ruhe umgibt, die die Mutterliebe über ihre Kinder breitet. Das Gebet der zuversichtlichen Behauptung und Erwartung wird für ihn ein natürliches Mittel zur Gemeinschaft mit Gott. Jesus Christus sagte: „Ich und der Vater sind eines.” In dem Grade, wie wir uns bewußt werden, daß der Mensch eins ist mit dem Vater, vermögen wir zu beten, als hätten wir bereits empfangen.
Ein Freund, der zu seinem eignen Leidwesen sich scheinbar nicht davon freimachen konnte, Gott flehentlich anzurufen, Ihm sein Leid zu klagen und Ihn zu bitten, es ihm abzunehmen, fand es leichter, seine Untrennbarkeit von Gott, sein Einssein mit Ihm zu verstehen, als er auf die Beziehung der einzelnen Lichtstrahlen zur Sonne, zur sichtbaren Quelle des Lichtes und der Wärme hingewiesen wurde. Mrs. Eddy sagt in bezug hierauf: „Der Mensch ist nicht Gott, sondern, dem Lichtstrahl gleich, der von der Sonne kommt, spiegelt der Mensch, der Ausfluß Gottes, Gott wieder” (Wissenschaft und Gesundheit. S. 251). Auch sagt sie (S. 361): „Wie ein Wassertropfen eins ist mit dem Ozean, wie ein Lichtstrahl eins ist mit der Sonne, so sind Gott und der Mensch, Vater und Sohn, eins im Wesen.”
Nachdem ich dem Freunde dies erklärt und ihm geraten hatte, verschiedene andre Stellen in Wissenschaftund Gesundheit aufmerksam zu lesen, verließ ich ihn. Am folgenden Tag sprach er sein Erstaunen darüber aus, daß er jemals einen weitentfernten Gott habe anflehen können. Er sagte: „Ich bin fast überwältigt von der Größe und Erhabenheit des Menschen, der Bekundung des unendlichen Gemüts, des Lebens, der Wahrheit und der Liebe. Wie konnte ich jemals Gott anflehen, mir Gutes zuteil werden zu lassen, da doch des Menschen wahres Selbst nichts Geringeres ist als die Bekundung des Wesens Gottes? Er hat mir alles gegeben; und ich weiß, daß, wenn ich Ihm gehorche und mir Sein Wesen klar vergegenwärtige, der Nebel von Sünde und Krankheit zum Schwinden gebracht wird.”
Nachdem der Schüler zum Gebet des Glaubens und Verständnisses durchgedrungen ist, lernt er den weisen Rat Mrs. Eddys würdigen: „Erhebe dich allmählich aus der Materie in den Geist” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 485), und klagt dann nicht mehr und sorgt sich nicht mehr, wenn die Antwort auf sein Gebet nicht so rasch erfolgt, wie er es sich wünscht. Andrerseits aber staunt er nicht über einen schnellen Erfolg. Wenn in meiner Erfahrung der Fortschritt zuweilen nur langsam war lind die Erhörung meines Gebets sich scheinbar verzögerte, oder wenn ein Gefühl der Entmutigung sich meiner zu bemächtigen drohte, so gereichte mir die Erkenntnis zum Trost, daß der Schöpfer über Seine Schöpfung in göttlicher Weise waltet. Er übereilt sich nicht und macht keine Fehler. Und wenn in der göttlichen Ordnung weder Eile herrscht noch Fehler vorkommen, so brauchen auch wir bei der Erlangung des Sinnes, der in Christus Jesus war, nicht hastig zu werden oder dem Gefühl der Entmutigung Einlaß zu gewähren.
Wer sich der Sache der Christlichen Wissenschaft angeschlossen hat, braucht nur getreulich weiterzustreben und sein Bestes zu tun in dem Lichte, das seinen Weg jeden Tag erhellt. Er sieht nicht auf einen mit unnützem Bedauern besäten Pfad zurück, noch sucht er eine Zukunft zu ergründen, die nie heranrückt, sondern er lebt und arbeitet im ewigen Jetzt. Die folgenden Worte Jesu ermutigen und stärken ihn: „Wer an mich glaubet, der wird die Werke auch tun, die Ich tue, und wird größere denn diese tun; denn Ich gehe zum Vater”, und: „Seid getrost, Ich habe die Welt überwunden.”
