Man kann die Barmherzigkeit den Duft der Liebe nennen. So wie der Gast, der beim Eintritt in ein Zimmer einen süßen Wohlgeruch wahrnimmt und seine Blicke im Zimmer umherschweifen läßt, bis sie auf einem Strauß Teerosen hasten bleiben, die mit sanftem Schimmer in einer stillen Ecke blühen, so empfindet ein jeder, der in das Bereich eines Herzens kommt, das mit Liebe zu Gott und den Menschen erfüllt ist, die Atmosphäre himmlischer Barmherzigkeit, welche aus jedem Wort und jeder Tat atmet. Man empfindet sie sofort, doch wäre der Versuch sie zu analysieren gerade so, als wollte man versuchen, der Rose das Geheimnis ihres Duftes zu entlocken. Die, denen sie im höchsten Maße eigen ist, scheinen sich ihrer am wenigsten bewußt, so natürlich, so ursprünglich tut sie sich kund, und zwar oft gar nicht einmal in Worten sondern in einem Blick, einem Lächeln, einem Händedruck. Sie ist die Wesenheit unausgesprochener Dinge. Sie ist die Geduld, die zufrieden wartet. Sie ist das Tragen des andern, das bereit ist, Zugeständnisse zu machen. Sie ist die Vergebung, die willig ist, zu vergessen. Sie ist die Zärtlichkeit, die sich danach sehnt, verstanden zu werden. Sie ist die Liebe, die da ausströmt, um zu heilen.
Kein Mensch auf Erden hat je diese Eigenschaft in einem solch hohen Grade besessen wie Jesus, denn keiner hat so geliebt wie er. Immer „jammerte es ihn” beim Anblick menschlichen Elends. Dennoch ist es eine bedeutsame Tatsache, daß dieses Gefühl des Mitempfindens in keiner Weise seine Fähigkeit beeinträchtigte, den unharmonischen Zustand, der diesem Mitempfinden hervorrief, zu berichtigen. Tatsächlich war oft bei ihm das Erbarmen anscheinend der erste Schritt zu jenen augenblicklichen Heilungen, die das höchste Ziel jedes wahren Christlichen Wissenschafters bilden.
Als der Aussätzige vor ihm kniete und ihn bat, daß er ihn reinigen möge, „jammerte” es Jesus, und er „reckte die Hand aus”, und „alsbald ... ward er rein.” Als ihm das Volk in die Wüste folgte, „jammerte ihn desselben; denn sie waren ... wie die Schafe, die keinen Hirten haben”, und er speiste sie nicht nur geistig mit dem Brot des Lebens und lehrte sie, sondern er gab ihnen auch Brot und Fische und versorgte sie so mit der materiellen Nahrung, die in jenem Augenblick ihren Begriff menschlichen Bedürfens darstellte. Als die zwei Blinden am Wege ihn anflehten, daß er ihre Augen auftäte, da „jammerte” es Jesum, und im nächsten Augenblick waren sie sehend; und als er dem Leichenzug des Jünglings begegnete, „der ein einiger Sohn war seiner Mutter, und sie war eine Witwe”, da „jammerte ihn derselbigen” und er sprach: „Jüngling ... stehe auf. Und der Tote richtete sich auf und fing an zu reden.”
Im Hinblick auf diese Geschehnisse braucht kein Nachfolger des Meisters es sich zum Vorwurf zu machen, wenn ihm bei seiner Arbeit an den Hilfesuchenden zuweilen Tränen in die Augen kommen. Hat nicht selbst Jesus am Grabe des Lazarus geweint? Sicherlich nicht, weil er glaubte, Lazarus wäre gestorben, denn sonst hätte er ihn nicht im nächsten Augenblick auferwecken können. Es waren sicherlich nicht Tränen des Kummers, sondern Tränen des Mitleids mit der Blindheit und der materiellen Gesinnung seiner Umgebung. Viele von denen, die er am Grabe traf, mußten die Botschaft des Christus schon früher vernommen haben, denn Jesus war kein Fremdling in Bethanien; und doch trauerten sie alle wie die, die keine Hoffnung haben. Die ersten Worte Marthas bewiesen, wie wenig sie Jesu Lehren verstanden hatte, denn ihre Klage: „Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben”, zeigte deutlich, daß sie die Rettung ihres Bruders von der Persönlichkeit des Menschen Jesus erwartet hatte, und nicht von dem immergegenwärtigen Christus. Sogar Maria, die ein höheres Maß geistiger Gesinnung besaß als Martha, und die einst in Begeisterung zu Jesu Füßen gesessen und seiner Rede gelauscht hatte, blieb still und gebrochen im Hause. Und als sie auf Marthas Geheiß schließlich heraustrat, war sie anscheinend zu nichts anderm fähig, als die Worte ihrer älteren Schwester mechanisch zu wiederholen. Ist es zu verwundern, daß Jesus weinte? Aber, ob auch die Tränen ihm noch die Wangen netzten, dennoch sprach er das Wort, das den Toten auferweckte.
Mögen doch die, welche heute danach trachten, die Toten, „die durch Übertretung und Sünde” Toten, zu erwecken, über diese Dinge nachdenken. Was ist es denn, was die zarten Frühlingsknospen hervorlockt bis jeder vorher scheinbar tote Zweig im herrlichen Blütenschmuck prangt? Ist es der trübe Novembernebel, die Totenstarre des Dezemberschnees, die Eiseskälte des Januar, die schneidenden Winde des Februar, das Ungestüm des März, oder ist es der sanfte Aprilregen und das freundliche Liebeswerben des Sonnenscheins im Mai? Laßt uns nicht vergessen, barmherzig zu sein. Der Liebe Widerspiegelung ist es, die da heilt. Laßt uns wachen und beten, damit wir in dem Bemühen, die Nichtigkeit menschlicher Illusionen zu erkennen, nicht jenes seinen und zarten Mitempfindens verlustig gehen, welches eine der schönsten Eigenschaften ist an dem, der seinen Mitmenschen weislich dienen will. Unsre Führerin sagt in Wissenschaft und Gesundheit (S. 367): „Ein freundliches Wort an den Kranken und die christliche Ermutigung desselben, die mitleidsvolle Geduld mit seiner Furcht und deren Beseitigung sind besser als Hekatomben überschwenglicher Theorien, besser als stereotype entlehnte Redensarten und das Austeilen von Argumenten, welche lauter Parodien auf die echte Christliche Wissenschaft sind, die von göttlicher Liebe erglüht.”
Kälte ist nicht Christliche Wissenschaft. Auch lehrt diese Wissenschaft nicht jenes eisige Sichfernhalten, das da zu sagen scheint: Behalte deine Sorgen für dich. Unglücklicherweise stehen manche Menschen unter dem Eindruck, daß sie, um konsequente Christliche Wissenschafter zu sein, auch nicht die geringste Gemütsbewegung über irgend etwas an den Tag legen dürften. Ganz gleich, wie schwer die Erlebnisse ihrer Freunde oder Angehörigen sein mögen, sie meinen, sie müßten sich in den undurchdringlichen Mantel eisigen Schweigens hüllen, ihre Herzen hinter einem Schein von Gleichgültigkeit verschanzen, die ihnen dabei völlig fern liegt. Sie glauben, ein solches Verhalten sei wissenschaftlich. Handelt man aber wahrhaft wissenschaftlich, so ist man niemals unglücklich. Und doch wäre es in solchen Fällen schwer zu sagen wer elender ist, der verletzte, enttäuschte, trauernde Freund, oder der sogenannte Christliche Wissenschafter. Die Bibel sagt: „Freuet euch mit den Fröhlichen, und weinet mit den Weinenden.” So laßt uns denn normale, natürliche, ungekünstelte, liebevolle Menschen sein. Zartes Empfinden ist nicht Schwachheit, noch heißt es eine Wirklichkeit aus dem Irrtum machen, wenn man zu einem Freunde, der im Elend ist, sagt: „Es tut mir leid.” Tut uns denn seine Unkenntnis der Tatsache, daß er gar nicht elend zu sein braucht, nicht wirklich leid? Browning hat einst geschrieben:
Wie lag erstarrt der mos'ge Rain.
Doch sieh! an einem schönen Maienmorgen
Ging es wie blaues Leuchten drüber hin:
Die Veilchenkinder waren da!
Wie liegt „erstarrt der mos'ge Rain” auch heute unter uns, in mannigfacher Gestalt, und harrt des Sonnenscheins. In dem langen kalten Winter der Unzufriedenheit ist er durch viele Lebensphasen hindurchgegangen. Zuerst entschwand ihm das Licht der Wahrheit in einem mentalen Dunst, der so dicht und undurchdringlich war wie es oft der Novembernebel ist, und bald darauf begrub ihn der Dezemberschnee unter Furcht, Gewissensbissen, Leiden, Selbst- verurteilung und Scham. Dann packte ihn die Eiseshand des Stolzes und des Zornes, so daß er immer härter und bitterer wurde, worauf die schneidenden Winde des Tadels über ihn dahinfuhren und das eitle Ungestüm müßiger Zungen ihn zur Wut aufpeitschten.
Da ereignete sich eines Tages etwas Wunderbares. Es fiel ein barmherziger Blick auf den gehetzten, leidenden Menschen, ein freundliches Wort der Ermutigung folgte und das arme, erstarrte Bewußtsein reagierte darauf, gerade so wie es die Erde tut, wenn die sanften Aprilregen kommen. Dann leuchtete ihm das Licht der Liebe, und es ward ihm so eigen warm und tröstlich zu Mut. Er fühlte auf einmal das Verlangen, sich zu bewegen, zu wachsen, und winzig kleine, weiße Fasern streckten sich aus den verschrumpften Wurzeln hervor. Er wollte aus dem langen Schlaf erwachen, wollte etwas sein, etwas tun. Und schließlich kam der „Maimorgen”, und kein erstarrter mos'ger Rain war mehr zu sehen, sondern nur noch ein samtener, grüner Abhang, ganz mit Veilchen übersät, die in stiller Dankbarkeit ihre blauen Augen zu der Liebe erhoben, die sie ins Dasein gerufen hatte, der Liebe, die Gott ist, und die, dem Sonnenschein gleich, schaffet daß „die Wüste und Einöde wird lustig sein”, und daß das Gefilde „wird blühen wie die Lilien”.
