Keine Gewohnheit eignet man sich leichter an als die, den Charakter und die Absichten andrer zu beurteilen, ohne genügend unterrichtet zu sein. Diejenigen, die aus Gedankenlosigkeit dazu beitragen, daß über einen Mitmenschen lieblose, ungerechte oder gar ehrenrührige Aussagen in Umlauf kommen, machen sich eines Vergehens schuldig, dem die zehn Gebote gerade so viel Aufmerksamkeit widmen wie dem Verbrechen des Mords. Die Worte: „Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten” enthalten eine ebenso bestimmte und unumgängliche Forderung des göttlichen Gesetzes wie die Worte „Du sollst nicht töten.” üble Nachrede wird mit Recht unter die Sünden gezählt, von denen Paulus sagt: „Lasset [sie] nicht von euch gesagt werden, wie den Heiligen zustehet.”
Sehr oft beruhen unrichtige Angaben oder Andeutungen über Menschen, Beweggründe und Handlungen auf purer Gedankenlosigkeit, sind aber deshalb nicht weniger schädlich. Sie fördern die Entstellung von wirklichen Tatsachen und verbreiten Unwahrheiten, die dem Verläumder sowohl wie dem Verläumdeten großen Schaden bringen. Diejenigen, die üblen Nachreden Nahrung geben, mögen dies nicht aus persönlichem Haß tun, ja sie würden die Andeutung, daß sie zur Klasse der Lügner und Diebe gehören, mit Entrüstung zurückweisen. Und doch machen sie sich des Verbrechens schuldig, von dem Jago sagt:
Wer meinen Beutel stiehlt, nimmt Tand; ’s ist etwas
Und nichts; mein war es, ward das Seine nun,
Und ist der Sklav’ von Tausenden gewesen.
Doch, wer den guten Namen mir entwendet,
Der raubt mir das, was ihn nicht reicher macht,
Mich aber bettelarm.
Wie sonderbar ist es doch, daß infolge von althergebrachter Gewohnheit eine Tat als Raub angesehen und verabscheut wird, während „hochangesehene Menschen” dieselbe Tat in einer andern, weit häßlicheren und oft weit schädlicheren Form fortwährend begehen! Wenn ein Verbrecher vor den Schranken des Gerichts steht, um sein Urteil zu empfangen, so wird oft große Nachsicht geübt, weil bewiesen worden ist, daß er in Verhältnissen geboren wurde und aufgewachsen ist, die seine bösen Neigungen sehr erklärlich machen. Was soll man nun von sogenannten Christen sagen, welche über ihre Mitmenschen böse Dinge verbreiten, die sie nicht verbürgen können oder deren Erwähnung durchaus unnötig ist? Ein jeder von uns ist diesem Irrtum schon zum Opfer gefallen. Derselbe gehört mit zu „der Welt Sünden”; er ist ein Laster, das an manchem sonst guten und lobenswerten Charakter einen häßlichen Fleck bildet. Und doch hat keiner je dieser Sünde gefrönt, der den ehrlichen und ernsten Versuch gemacht hat, sich „Gott zu erzeigen einen rechtschaffenen und unsträfllichen Arbeiter, der da recht teile das Wort der Wahrheit.”
Wenn man das Urteil der Zeitungen und Zeitschriften über die Christliche Wissenschaft liest, so muß man nur staunen, wie häufig wohlmeinende Menschen, unter denselben Prediger des Evangeliums, sich von Vorurteil verleiten lassen, über diese Lehre nachteilige Aussagen zu machen, die sie andern nachsprechen, ohne erforscht zu haben, ob sie auf Wahrheit beruhen. Und doch sind die Tatsachen so leicht festzustellen.
Die Christliche Wissenschaft macht es ihren Anhängern klar, daß bei ihrem Bestreben, der Neigung zum unnötigen und gedankenlosen Kritisieren zu widerstehen, es sehr darauf ankommt, daß sie die Abscheulichkeit dieser Sünde deutlich erkennen. Diese Erkenntnis ist von großem Vorteil für sie, legt ihnen aber zugleich eine große Verantwortung auf. In der Christlichen Wissenschaft wird sehr betont, daß ein Straucheln irgendwelcher Art, daß jeder Irrtum eine Sünde ist. Ihren Lehren zufolge besteht eine der schlausten Kundwerdungen des Übels in einer unechten Besorgnis um das Wohl der Allgemeinheit. Man glaubt oder gibt vor, die Wahrheit in uneigennütziger Weise zu stützen, streut aber dabei geschäftig den Samen des Irrtums aus.
Unter den Sünden, vor denen Paulus warnt, weil sie den Heiligen nicht zustehen, ist auch „törichtes Gerede” genannt (nach der engl. Bibelübersetzung). Im ganzen Verzeichnis böser Gewohnheiten gibt es keine einzige, die weniger mit dem Bekenntnis eines Christen in Einklang steht und die den Charakter mehr schädigt, als die Gewohnheit, ohne ein Erforschen der Tatsachen und ohne irgendwelche Notwendigkeit üble Rede über andre verbreiten zu helfen.
