Die Christliche Wissenschaft hat bei vielen Leuten ein ganz neues Interesse für die Parusie oder Wiederkunft Christi und die Herstellung seines Reiches erweckt. In dieser Frage haben sich die Forscher und Bibelkritiker im allgemeinen in zwei Schulen geteilt, die in den wesentlichsten Punkten einander entgegengesetzte Ansichten vertreten. Eine dieser Schulen, unter deren Anhängern sich viele Autoritäten befinden, behauptet, Jesus Christus habe das verheißene Reich als eine Einrichtung nach irdischem Muster betrachtet, und zwar als eine, deren Kommen in nächster Zukunft zu erwarten sei. Die andre Schule, der viele hervorragende Gelehrte angehören, glaubt, der Meister habe ein Reich geistiger Natur im Sinne gehabt. Jedenfalls aber habe er nicht erwartet, daß es so bald erscheinen würde.
Die erste Schule gründet ihre Behauptung in der Hauptsache auf das dreizehnte Kapitel des Evangeliums nach Markus, und zwar besonders auf den dreißigsten Vers: „Wahrlich, ich sage euch: Dies Geschlecht wird nicht vergehen, bis daß dies alles geschehe.” Es ist viel scharfsinnige Gelehrsamkeit angewendet worden, um die bestimmte Erklärung dieses Verses mit der scheinbar weniger bestimmten des zweiunddreißigsten Verses in Einklang zu bringen: „Von dem Tag aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel nicht im Himmel, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.” Diejenigen, die da meinen, unser Herr habe nicht ein baldiges Kommen seines Reiches vorausgesagt, stützen sich auf verschiedene andre Aussprüche von ihm, z. B. auf gewisse Gleichnisse sowie auf die Erklärung, daß das Evangelium zuvor den Heiden gepredigt werden müsse — ein Werk, dem große Veränderung in der Daseinsordnung vorausgehen müsse, und das beträchtliche Zeit erfordere.
Es muß dem Laien hoffnungslos erscheinen, die widersprechenden Meinungen zu vereinigen, oder zu entscheiden, was der Wahrheit am nächsten kommt. Der Christliche Wissenschafter wird jedoch von solchen Schwierigkeiten nicht beunruhigt. Es erkennt zwar die Gelehrsamkeit und Gründlichkeit an, mit der viele eifrig die Wahrheit gesucht haben, sieht aber ein, daß diese Forscher mehr oder weniger fehlgegangen sind, weil sie entweder nicht fähig oder nicht willens waren, die Tatsache zu erfassen, daß die Frage eine geistige ist und daher auf einer materiellen Grundlage weder erforscht noch erklärt werden kann. Für den, der dies verstanden hat, verschwinden auf einmal alle scheinbaren Widersprüche in des Meisters Lehre von den letzten Dingen. Die Aussprüche, welche dem Meister im dreizehnten Kapitel des Evangeliums nach Markus zugeschrieben werden, vor allem in denjenigen Versen, die dem Materialisten besonders dunkel und widerspruchsvoll erscheinen, finden ihre Erklärung in der Antwort, die Jesus einst den Pharisäern gab, wie Lukas berichtet: „Sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch.”
Außerdem darf der Christliche Wissenschafter eines nicht vergessen, wenn er das obenerwähnte dreizehnte Kapitel oder irgendeine andre Bibelstelle erklären will, die vom Kommen des Reichs Gottes handelt. Wenn es nämlich da wie überhaupt in den Evangelien heißt, Jesus habe diese Worte gesprochen, so haben wir es mit einer Zusammenfassung seiner Erklärungen zu tun, wie sie von einem der vier Jünger berichtet wurden, denen es vergönnt war, sie selbst zu hören. Aller Wahrscheinlichkeit nach aber kamen diese Worte erst in einer späteren Zeit zur Aufzeichnung und nicht schon damals, als sie gesprochen wurden.
Es ist zudem ziemlich sicher erwiesen, daß das Evangelium nach Markus nicht vor dem Jahre 69 geschrieben wurde, und so ist es sehr wahrscheinlich, daß es nicht einmal die Worte der Urschriften genau überliefert. Und wenn dies auch der Fall wäre, so muß doch eine Darlegung dieser Art von der Mentalität und den Ansichten des ersten Schreibers und der Mentalität des Jüngers, von dem sie herrührte, beeinflußt sein. Auch ist es möglich, daß Markus oder ein andrer zusammenstellte, was verschiedene Jünger an bestimmten Aussprüchen Jesu beisteuerten. In diesem Falle wäre der Einfluß persönlicher Ansichten ja nur noch stärker zur Geltung gekommen. Dies zeigt sich im vierten Vers des genannten Kapitels; denn da ist ersichtlich, daß diese Männer äußere und sichtbare Zeichen vom Kommen des Messias erwarteten. Im neunten Kapitel desselben Evangeliums wird berichtet, wie drei dieser vier Jünger Zeugen der Verklärung Jesu waren und dennoch deren Bedeutung oder die Bedeutung von Jesu Ankündigung seiner Auferstehung nicht zu fassen vermochten. Sie waren auch unter denen, die, wie das erste Kapitel der Apostelgeschichte berichtet, Jesum fragten, ob er dem Volke Israel das Reich wiederherstellen wolle. All das weist darauf hin, wie wenig sie damals fähig waren, den Begriff eines geistigen Reiches statt eines materiellen zu erfassen.
In der damaligen Zeit dachten und redeten die Juden in der Ausdrucksweise der Offenbarungsschriften, die in den ersten Zeiten der Makkabäer in Gebrauch gekommen waren und im ersten Jahrhundert vor unsrer Zeitrechnung unter der Herrschaft der Seleukiden und der späteren Hasmonäer ihre größte Entfaltung erreicht hatten. Die Voraussagen und die verschleierten Verheißungen dieser Offenbarungen lenkten die Blicke des Volkes auf eine Erlösung von seinen Leiden und auf die Wiedererlangung seiner religiösen und politischen Freiheit hin. So erwarteten sie, der Messias werde mit der Macht, dem Glanz und der Herrlichkeit eines irdischen Herrschers kommen und ein zeitliches Reich auf tausend Jahre herstellen, in dessen Mittelpunkt, dem wiederhergestellten und verschönerten Jerusalem, sich die Treuen Judäas und der zerstreuten Stämme sammeln würden. Zur damaligen Zeit machte die Kenntnis der sechshundertunddreizehn Gebote des Gesetzbuches und die unzähligen ungeschriebenen Vorschriften der Halacha die ganze Bildung aus; die Schriftgelehrten waren die anerkannt rechtgläubigen Lehrer, und die Erwartungen, welche in eine besondere Offenbarungssprache gehüllt waren, wurden ein Teil der Hoffnungen der Juden.
So standen die Dinge zur Zeit unsres Herrn, und von diesem Standpunkte aus suchten seine nächsten Nachfolger samt der Mehrzahl ihrer Landsleute seine Worte und Taten zu verstehen und zu erklären. Es ist daher nicht überraschend, wenn Petrus und Jakobus, Johannes und Andreas diesen nur undeutlich verstandenen Äußerungen des dreizehnten Kapitels nach Markus beim Wiederholen ein Aussehen verliehen, das an die religiösen Anschauungen jener Zeit erinnert. Zudem fügte sich Jesus wo immer möglich den örtlichen Gebräuchen und nahm seine Gleichnisse aus der Volkssprache. So wandte er selbst häufig die Offenbarungsredeweise an. Harnack, der als einer der größten lebenden Erklärer des Neuen Testaments anerkannt wird, hat darauf hingewiesen, daß die wahre Lehre Jesu von den letzten Dingen in einen Mantel jüdischer Offenbarungsredeweise gehüllt ist. Jesus erkannte, daß die Menge für eine offenere Offenbarung nicht bereit war, und fand es weise, nur solche Ausdrücke anzuwenden, die sie imstande waren zu „tragen”, die aber von den Geistigergesinnten in ihrer vollen Bedeutung verstanden werden konnten.
So erklärten nun die Leute in den darauffolgenden Jahrhunderten diese scheinbar rätselhaften Äußerungen in Übereinstimmung mit ihrem geistigen Verständnis, und es entstanden Sekten, deren Einsicht durch ihre Theorien und ihre Vorurteile abgestumpft wurde. Dennoch schritt die Welt, dem Anstoß des Wegweisers getreu, langsam und beharrlich höher, dem Lichte entgegen. Als vor einem halben Jahrhundert die Zeit zum Aufdämmern einer klaren Offenbarung gekommen war, da fand sich Gottes Werkzeug hierzu in der Person unsrer lieben Führerin, Mrs. Eddy. Sie war mit außergewöhnlicher geistiger Einsicht begabt, was sie befähigte, in überzeugender Weise die geistige Bedeutung von des Meisters Botschaft an die Menschheit offen darzulegen. Wer heute das Vorrecht hat, die Bibel im Lichte von Mrs. Eddys Schriften zu studieren, kann dem Grübeln und gelehrten Streit der Theologen, Kritiker und Geschichtsforscher gegenüber neutral bleiben, von allem Zweifel frei werden und durch den Wortlaut der Evangelien hindurch die Grundwahrheit klarer und deutlicher erkennen. So lehrt uns Mrs. Eddy, nach dem geistigen Erwachen zu streben, von dem sie sagt, es sei „das ewige Kommen des Christus, das Vor-Erscheinen der Wahrheit, welches Irrtum austreibt und die Kranken heilt” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 230). Der Christus ist nie abwesend, sondern, wie Gott, immer gegenwärtig; aber das Erscheinen dieser göttlichen Idee im menschlichen Bewußtsein ist jedem Zeitalter eine Erlösung; es bedeutet Licht für alle, „die da sitzen in Finsternis und Schatten des Todes”, und richtet ihre Füße „auf den Weg des Friedens”.
