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Wahres Verlangen

Aus der September 1914-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Der Anfänger im Studium der Christlichen Wissenschaft, der sich einen Begriff zu machen sucht von der Grundlage, auf der diese Lehre sich aufbaut sowie von den Punkten, in denen sie von andern Arten religiöser Unterweisung abweicht, gerät bisweilen durch Mrs. Eddys Auffassung von wissenschaftlichem Beten in einen Zustand der Verwirrung. Wer von Kindheit an das Gebet flehentlicher Bitte gelehrt worden ist — der Bitte um das Gewünschte, gleichviel ob geistiger oder materieller Art (natürlicherweise war es öfter das letztere)—, vermag die Bedeutung zuversichtlicher Bestätigung im christlich-wissenschaftlichen Gebet nicht zu erkennen, geschweige denn die Notwendigkeit solchen Betens einzusehen. Bisweilen sagen diejenigen, die sich nur erst kurze Zeit mit der Christlichen Wissenschaft befaßt haben: „Meine alte Anschauung von Gott ist vernichtet, ich habe sie aber bis jetzt durch keine andre ersetzen können”, und ein ernster Sucher frägt dann wohl: „Was muß ich zunächst tun, um die Lehre der Christlichen Wissenschaft verstehen zu lernen?”

Schon auf der ersten Seite von Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift gibt Mrs. Eddy eine in einfachster Sprache gehaltene Erklärung ihres Begriffs von Gebet. „Verlangen ist Gebet” schreibt sie, „und kein Verlust kann uns daraus erwachsen, daß wir Gott unsre Wünsche anheimstellen, damit sie gemodelt und geläutert werden möchten, ehe sie in Worten und Taten Gestalt annehmen.” Sie sagt uns also, daß wünschen oder verlangen beten bedeutet; sie weist uns darauf hin, daß auf Grund rechten Wünschens — also Betens — die Erfüllung des Wunsches bereits begonnen hat. Dies war die Art zuversichtlichen Betens, die Jesus übte; sprach er doch: „Vater, ich danke dir, daß du mich erhöret hast”, ehe noch der Augenschein bestand, daß sein Gebet Erhörung gefunden hatte. Noch eins muß man berücksichtigen, damit das erste Gebot genau befolgt werde, wie es die Christliche Wissenschaft fordert, nämlich: wir müssen vor allem nach den Dingen Gottes verlangen — nach geistigen Dingen. „Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes”. Und warum nicht? Ist dies nicht ein vernünftiger Gottesdienst, da Er uns „dargibt reichlich allerlei zu genießen” ? Ist nicht Gott der eigentliche Grund, der Ursprung und Quell unsres Seins, so daß wir im wahrsten Sinne des Wortes „in ihm leben, weben und sind”, und nirgend wo anders? Ein Anderswo gibt es nicht. Und was geschieht, wenn wir diesen Forderungen nachgekommen sind, am ersten nach dem Reich Gottes zu trachten? Es fällt uns alles Notwendige zu; und dabei ist der Ausgangspunkt ein sehr einfacher: nur der ernstliche Wunsch nach dem Guten.

Das Gebet der Christlichen Wissenschaft ist ein Gebet der Affirmation, eine bewußte, zuversichtliche Bestätigung der Tatsache, daß das Werk Gottes vollbracht ist, und daß Er damit zufrieden war; denn „er sah an alles, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr gut.” Wir haben also diese vollkommene Schöpfung anzuerkennen und sie uns zu vergegenwärtigen. Und da die Menschen ein Teil dieser Schöpfung sind, brauchen sie nur das zu beanspruchen, was ihnen bereits gehört, was ihren rechtmäßigen Anteil am Erbe der Kinder Gottes ausmacht. Sicherlich bedeutet dies ein Gebet des Glaubens, Vertrauens und Wissens, während das andre (das flehentliche Bittgebet) mehr als ein Gebet des Höffens und Sehnens bezeichnet werden muß, das, so ernst es auch oftmals ist, doch mehr oder weniger von Zweifel und Angst durchsetzt ist. Das Gebet des Herrn mag von manchen als ein Bittgebet angesehen werden; in seiner Einfachheit und Schlichtheit ist es jedoch vor allem der Ausdruck des Verlangens nach geistigen Dingen, und zwar für jeden einzelnen Tag. Wie verscheuchen doch die bloßen Worte, „gib uns heute”, die Gefühle der Furcht und Angst, wenn wir über ihren Inhalt und ihre Natürlichkeit ernstlich nachdenken.

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